USA Westcoast

Unsere Reise verlief von Los Angeles bis Seattle, an der Küste entlang, an kilometerlangen teils einsamen, teils belebten Stränden, an zerklüfteten Felsküsten mit wilden, dramatisch steilen Abhängen, auf abenteuerlichen Serpentinen, schnurgeraden Landstraßen, mit einigen Abstechern ins Inland, in die Berge, zu Vulkanen, in die Prärie, in die Hitze, in die Kälte, in den Schnee. Dazwischen die typischen amerikanischen Städte, Großstädte, Kleinstädte, wir waren auf gigantischen Brücken, auf nadeldünnen Türmen, vor schwindelerregenden Abhängen, zwischen bizarren Felsformationen, in saftigen Tälern, auf reißenden Sturzbächen, unter wilden Tieren, und nichts in dieser Aufzählung ist übertrieben. Sie ist nicht einmal vollständig.

Von den drei Wochen hatten wir für die erste Woche die Unterkünfte vorgebucht, der Rest ergab sich auf der Fahrt. Als Mietwagen fuhren wir einen schneeweißen Chrysler Jeep, der groß genug war, um nicht zwischen den Monster-Pick-Ups, Geländewagen oder großen Limousinen völlig zu verschwinden. Im Durchschnitt blieben wir zwei bis drei Nächte an einem Ort, dann zogen wir weiter.

 

Santa Monica

Der Vorort von Los Angeles liegt mit breitem Sand direkt am Meer. Mediterran sein Eindruck, staubig die Straßen, bunt die hier wie an der Küste häufig anzutreffende  „Fisherman’s Wharf“, zu Vergnügungsparks umgebaute alte Kaianlagen, vermittelt dieser Vorort „calmness“, eine gewisse Gelassenheit. Drahtige Jungen mit nacktem Oberkörper turnen an Seilen und Sportgeräten, die hier zahlreich aufgebaut sind, als würden sie für ein Casting trainieren, Hollywood ist nicht weit. In Santa Monica endet die „Route 66“, jene alte quer durch die USA verlaufende Straße. „Get your kicks on Route sixty six“, wie die Rolling Stones singen. Das Lied ist mir im Ohr, und wir stellten fest, das unser Motel-Zimmer genau gegenüber des „Guitar Shop“ lag, wo sie alle auftraten, Eric Clapton, J.J. Cale…

Kurz vor dem Sonnenuntergang, der der Hauptstraße den Namen Sunset Boulevard gab, sahen wir im Vergnügungspark ein merkwürdiges sechseckiges Holzgebäude, eine kleine alte Halle, und darin ein Merry-go-round, ein altes Karussell, mit vielen verschiedenen, bunt bemalten Holztieren, auf denen die Kinder saßen. in dieses kleine Merry-go-round waren wir sehr verliebt und erheben es hiermit zur Hauptattraktion von Santa Monica.

In dem Ort befinden sich auch, soweit sie noch stehen, die Wohnungen und Häuser deutscher Emigranten, besonders Schriftsteller wie Thomas Mann, Brecht, Lion Feuchtwanger, dessen riesige Villa (er war Fabrikanten-Sohn) wir in der Nähe sahen. Zwar sprechen die Amerikaner gern vom kalifornischen Weimar, das hier ein paar Jahre bestand, aber mit erbärmlichen sozialen Gefälle unter den Exilierten: die einen lebten in Villen mit Meerblick, andere hausten in Löchern. als Skriptschreiber. Für Hollywood eigneten sie sich alle nicht.

Kurz danach fuhren wir ins Paul-Getty-Museum, es ist Bestandteil der Villenlage des einstigen Öl-Milliardärs. Der Mann hat sich hier im Stil spätrömischer Aristokraten ein Museum zusammengekauft, das eine der größten Antikensammlungen der Welt außerhalb Europas enthält. Allein die Exponate zum Dionysos-Kult, alles echte Stücke, habe zumindest ich in dieser Häufung noch nicht gesehen. Paul Getty: das war übrigens der, dessen Enkel in den siebziger Jahren entführt wurde, um ihn zu erpressen, und als er jede Zahlung ablehnte, schickten die Kidnapper ihm ein Ohr seines Enkels. Dann zahlte er etwas. Er hat das Lösegeld später von seinem Enkel zurückgefordert.

 

Grover Beach

Ein kleiner Ort an der kalifornischen Küste, mit sehr schönem Strand, auf ihm ist es erlaubt, Auto zu fahren. So etwas lassen sich Amerikaner nicht zweimal sagen und daher erlebten wir die skurrilste Strandparade: kilometerlang standen die Wohnmobile und Geländewagen dort, Wagenburgen einer fahrwütigen Meute, deren Fahrer abwechselnd die amerikanische oder eine Piratenflagge hissten und mit ihren Rädern durch den schönen Strand wühlten. Da wir mit unserem Jeep mithalten konnten, fuhren wir ebenfalls den Strand entlang, wie gesagt: Meilenweit diese Autoparaden mit Flutlichtanlagen auf den Pritschen, Blues- oder Country-Musik dringt aus den Autofenstern, aus denen lässig die tätowierten Arme der Fahrer oder Beifahrer ragen.

Auto fahren in den USA: Der Verkehr fließt gelassen in konstanter Ruhe, es gibt selten Gehupe, keine Drängelei, selbst als ich mich am ersten Tag in die falsche Linksabbiegespur stellte, sah ich nur einen Stinkefinger. Alle halten sich in den Städten an das Speedlimit, auf dem Land kann man bei Einhaltung der Gesetze schon mal zum Verkehrshindernis werden, dort weiß man offenbar, in welcher Ecke der Sheriff gerade hockt. Rechts überholen ist erlaubt, Autobahnen kennen Abfahrten, die nach links abgehen. Damit hatte unser Navigationsgerät zuweilen seine Probleme. Unser Rental Car hatte ein Autokennzeichen von Texas, also hielt uns ohnehin jeder für fremd und war geduldig mit uns. Gnadenlos wird gegen Alkohol am Steuer vorgegangen: Zwar gilt nicht überall Null Promille, aber in allen Gegenden sahen wir Schilder, auf denen auch aufgefordert wird, betrunkene Fahrer zu melden: Report drunken drivers.

Durch das Gebiet „Big Sur“ läuft der Highway One genau entlang der Küste, eine der schönsten Küstenstraßen die wir je kennen gelernt haben. Man nehme die Küstenstraße Irlands in Donegal, addiere dazu die kernige Serpentinenstrecke in Südwest-Kreta und nehme das Ganze mal zehn: dann hat man die Länge und Szenerie von Big Sur, unterbrochen von Buchten, in denen See-Elephanten in Massen leben und sich gegenseitig anbrüllen, Pelikane in dichten Formationen über die Felskanten segeln, und überall dort diese kleinen neugierigen Erdmännchen…

 

San Francisco

Die Anfahrt von Süden führt über linde Hügel, der Verkehr wird dichter, die Vorgärten werden bunter, die Straßen breiter, und dann…und dann…gleich sieht man sie, gleich, es ist kein Nebel, keine Wolke am Himmel, dann müsste sie gut zu sehen sein: da ist sie, die Golden Gate Bridge! Nördlich von Hügeln, südlich von der Stadt eingegrenzt, erhebt sich ihr rostrotes Riesengestell auf zwei Trägern über 200 Meter hoch, damals zur Bauzeit Mitte der dreißiger Jahre die größte Brücke der Welt, in ihrer monströsen Schlichtheit verbindet sie nicht nur Stadteile, sie gilt auch als Symbol für die Brücke zwischen allem möglichen, was amerikanisches Pathos überbrücken möchte: Kontinente, Geschlechter, Rassen, Zeiten, und all das kennzeichnet auch die Stadt selbst, auf den ersten Blick, viele ethnische Gruppen leben dort, viele Selbstfinder, viele Aussteiger, Querlebende, Künstler und solche, die es nie werden. Sie leben, auf den zweiten Blick, sehr getrennt voneinander, Chinatown ist ein eigener Bezirk, Homosexuelle stapeln sich in Castro, und Motiv Nummer zwo, neben der Brücke, die Cable Cars, wird eigentlich nur von Touristen benutzt und fotografiert.

Die große Brücke verbindet noch mehr, sie verbindet Leben und Tod, sie ist ein Sprungbrett für Selbstmörder, die bislang in die tausende gehen – von denen man weiß. Die Dunkelziffer wird sehr hoch sein, denn wer hier herunter springt, verschwindet spurlos: die kalte Strömung reißt die Körper sofort ins Meer, und wer den Fall überlebt, den fressen die Haie. Gleiches Schicksal blühte auch früher den Flüchtlingen des Gefängnisses Alcatraz, dessen Felsinsel inmitten der Bucht prangt. So liegen vor der Stadt im Wasser Symbole des Todes, und die glänzende Skyline mit dem spitzen pyramidalen Leib des schönsten Hochhauses der Westküste täuscht darüber nicht hinweg: San Francisco ist eine auch kranke Stadt, mit einer hohen Aids-Rate und mit vielen, die nur noch aufgrund ihrer verdreckten Blümchenhemden an die Flower-Power-Bewegung erinnern: barfuss laufende, in Abfalleimern grabbelnde Drogenabhängige. It’s hard to say.

Erwägend, dass einer Stadt wie San Francisco entweder nur freundlich und kurz, oder kritisch und lange begegnet werden kann, und uns für ein längeres Kennen lernen die Zeit fehlte, gingen wir „on the road again“, so ein Titel von Canned Heat, der im Radio spielte.

 

Yosemite –Nationalpark

Östlich von San Francisco, fast eine Tagesreise ins Innere, an Nevada grenzend, erstreckt sich Yosemite (gesprochen „Jo-símmetie“), ein Nationalpark wie viele in den USA, die dem besonderen Schutz des Staates empfohlen sind, und zwar schon früh, im 19. Jahrhundert, kurz nach den Einrichtungen der Indianer-Reservate. Er umfasst ein mittelgroßes Gebiet, vielleicht etwas kleiner als das Saarland, mit Bergen bis 10.000 Fuß (3300 Meter). Dem Hinweis kluger Reiseführer folgend, dass dieses geschütztes Naturgehege oft ausgebucht und gesperrt wird, hatten wir ein Zimmer vorgebucht, auch war es noch nicht Hauptferienzeit, aber zu dieser müssen sich die Amerikaner Stoßstange an Stoßstange durch die Serpentinen und durch das stattliche ehemalige enge Urstromtal quetschen. Wir wanderten in den Bergen, zwischen den sechsthöchsten Wasserfällen der Welt, urigen Felsformationen, gigantischen, bis zu 1800 Jahre alten Red-Wood-Bäumen, die so groß sind, dass Postkutschen durchrollen können. Ein Gigant ist unter dieser Angeberei der Amerikaner, tatsächlich solche Riesen aus Sensationsgründen zu durchtunneln, leider kläglich zusammengebrochen, vor einigen Jahren, er liegt nun da, wie ein Dinosaurier, und wir weinten bitterlich. Eine andere Wanderung führte uns von 2600 auf 1000 Meter „herunter“, was das eben so heißt: herunter, dann das gleiche wieder herauf, dann wieder herunter. Völlig erschöpft saßen wir wieder in Jeep.

Vor zwei Dingen im Leben habe ich Angst: Vor wilden Tieren und vor Voodoo, an den ich aufrichtig glaube. Während der karibische Zauber hier nicht zu befürchten stand (ich habe jedenfalls nichts bemerkt), wurde hier vor Bären und Pumas gewarnt; erstere erwähnt um sie in Ruhe zu lassen, zweitere, um sie auch in Ruhe zu lassen. Während Bären aber angeblich nur ihre Jungen verteidigen und sonst ihres Weges trollen, müssen Pumas aktiv verscheucht werden. Die Warnungen empfehlen ein Auftreten wie man es einem jeden überhaupt im Leben als Haltung empfehlen sollte: Aufrecht stehen, nicht weglaufen, mit den Armen fuchteln, eventuell Steine werfen, zur Abschreckung laut jodeln, am besten politische Parolen. Ich wusste nun: Pumas also prägten das Sozialverhalten der Amerikaner in der Welt. Von Pumas wurden sie erzogen. Da Pumas sich gerne von Bäumen fallen lassen, und zwar auf ihre Opfer, und wir keines sein wollten, schlichen wir europäisch scheu gebückt durchs Gebüsch, den Kopf nach oben, und stolperten. Ein echt netter Amerikaner vor uns, mit seiner Familie, blieb plötzlich stehen und wir gingen weiter, bis alle vier, auch der kleine Dreijährige wissend zu uns „Psst“! befahl. Wir erstarrten. Der Familienvater sagte: „A Rattlesnake“ (Klapperschlange). Wir lauschten, konnten aber nichts klappern hören. Doch dann schlich tatsächlich so ein Exemplar keine drei Meter vor uns über den Weg, müde und schlapp wie ein kaputter Fahrradschlauch, oder satt, wir mochten das nicht beurteilen. Immerhin! Meiner Phantasie gewährte ich noch die Vorstellung, dass der amerikanische Familienvater ein Filmstar sei, so sah er jedenfalls aus, der sich todesmutig auf die Schlange stürzte und den Vers Heinz Erhardts verwirklichte:

Er würgte eine Klapperschlang

bis ihre Klapper schlapper klang.

Die hohen und bizarren Felsnadeln im Park tragen würdige Namen: El Capitan, Halfdome (600 Meter Steilfels!), Sentinel (ich weiß bis heute nicht was das Wort bedeutet), Kathedral (weil ein 300 Meter hoher Felsbogen etwas gotisch anmutet). Als wir in einem Busshuttle fuhren, wurden wir tatsächlich eines Bären ansichtig, jenes Wappentier Kaliforniens. Offensichtlich war das ein großes Ereignis, denn der Bus bekam Schlagseite, weil alle Amerikaner im Bus ihre Nasen und Objektive an die Fenster der bärenzugewandten Seite des Busses pressten. Er trottete zottelig seines Weges, ließ sich nicht stören.

 

Bloomsday, 16. Juni, Sacramento

Ich muss erklären was das ist. Bloomsday ist in der Literaturwelt bekannt als jener Tag, an dem der Romanheld Leopold Bloom 1904 von seinem Autor James Joyce im Roman „Ulysses“ durch die Stadt Dublin geführt und begleitet wird. Auf rund tausend Seiten wird alles an dem Mann, seiner Frau Molly und vieler anderer Figuren erzählt, was es so gibt im Alltag: eine Revolution in der Romankunst, daher feiern viele Literaturliebhaber eben den Bloomsday, and so me too. Dieses Mal fiel er auf den Tag, an dem wir Oakhurst bei Yosemite verließen und nach Sacramento weiterfuhren. Am Morgen im Motel zog ich mir bereits ein weißes Hemd an, extra wegen Bloomsday. Kurze Hosen, aber weißes gebügeltes Hemd – sah vielleicht etwas komisch aus. Aber egal. Der Weg ging durch trockene Prärie, der Jeep zeigte 105 Grad Fahrenheit (entspricht ca. 40 Grad Celsius!), und als wir in Sacramento ankamen, jener Stadt, in der Arnold Schwarzenegger zwei Legislaturperioden Gouverneur war, bekamen wir einen Hitzeschlag. Wir suchten unser Hotel auf und beschlossen, das Capitol zu sehen, einem Nachbau des Capitol in Washington. Es war Samstag, Noon, also 12:00 Uhr. Leer und ausgestorben die Innenstadt, ähnlich wie der Bahnsteig zu Anfang von „Spiel mir das Lied vom Tod.“ Nur zwei verrückte Deutsche gehen bei vierzig Grad im Schatten am Bankhaus von Wells Fargo vorbei. Ich wollte Geld aus einem Automaten ziehen. Ich zog die Karte. Der Automat zog nicht mit und gab mir keines. Dann duellierte ich mich mit einem anderen Geldautomaten, über ihm ragte ein Turm mit fünfzig Stockwerken. Ich schoss meine Pinnummer ins Gerät, es fiel um und spuckte die Dollars aus. So aufmunitioniert, gingen wir weiter und kamen zum Capitol Kaliforniens. Komische Weiber standen dort vor dem Haupteingang, sie hatten ein Transparent aufgestellt mit der Aufschrift „Slutwalk Sac“, das beschriftete Laken hing etwas schlapp zwischen den Bambusstangen. Wir benötigten ein paar Beobachtungen, um zu verstehen, dass es sich um einen Protestmarsch für das Recht von Huren handeln sollte (slut – Schlampe, Hure). Aber es war zu heiß, es waren nur zwanzig netzstrumpfbezogene, rosalippig bemalte Damen zumeist kräftiger Statur gekommen, und das beste ist, sie verließen den Schatten nicht, damit ihr berufliches Leben als Schattendasein symbolisierend. Es war zu heiß. Auf dem Heimweg fiel uns wieder auf, welch schöne Häuser doch Scientology unterhält. Sowohl in San Francisco als auch hier in Sacramento besetzen sie erste Adressen besterhaltener alter Häuser mit nobler Detailarbeit in allen Bauelementen. Wie es innen aussieht, war nicht zu erkennen, aber als irritierter Sinnsucher fände ich darin gewiss meinen Platz und mein Auskommen. O sancta simplicitas! Wie verführerisch lockst du mit deinem Reichtum.

Wir flüchteten an den Sacramento-River in eine ballermann-ähnliche Restauration, die einfach nur „Joe’s“ heißt und brechend voll war mit mampfenden Amerikanern. Die Amerikaner stehen irgendwann in ihrem Leben vor der Entscheidung, ob sie dick oder dünn sein wollen. Und je älter sie werden, desto mehr tragen sie ihre Entscheidung inklusive aller Gewichte mit Würde – in der Jugend mit der Dreistigkeit zu enger Kleidung. In Amerika ist alles größer dimensioniert. Was in Europa eine Kröte wäre, die „Konfitüre“ sagt, wäre in Amerika ein Breitmaulfrosch, der „Marmelade“ sagt. Dies spiegelt sich auch an den Körpern. Viele Restaurants sind Lärm-Katastrophen und Ketchup-Schlachtfelder.

Anett trank einen Cocktail, ich ein Beer. Wir stießen auf Leopold Bloom an. Danach hielten wir zwei Stunden Siesta, futterten ich weiß nicht mehr was, und abends, in der Altstadt, die so aussieht wie Tombstone  zur Zeit des Wyatt Earp, die Überraschung: – tatsächlich, hier gab es Guinness!! Wiederum Cheers to Leopold Bloom!

 

Trinidad und Humboldt Bay

Ab jetzt wurde die Reise etwas ruhiger und bekam einen Hauch nordischer Poesie. Dieser Hauch war zunächst ein windiger, indem wir kurzbehost aus dem Jeep stiegen, und gleich wieder zurück wollten. Nordwestlich, an der Küste, fiel die Temperatur für uns von 105 auf 58 Grad Fahrenheit (ca. 13 Grad Celsius). Es war etwas wolkig. Felsige Küstenformation. Eine traurige Wohnwagenkolonie, einige Holzhäuser mit Meerblick, ein Supermarkt, eine Tankstelle, ein Fischhändler, der aber geschlossen hatte. Die Gegend sieht zwar nicht so aus, ist aber katholisch, daher „Trinidad“ (Trinität). Ein kleiner Leuchtturm markiert den Mittelpunkt des Ortes, seinem Radius über dem Wasser entspricht ungefähr auf der Landseite die Reichweite der Häuserbebauung bis zum nächsten Berg. Der Leuchtturm hat eine „Fog Bell“, eine Nebel-Glocke, und auf dem Meer schwankt eine Heulboje hin und her, in einem Sound, der diese Technik als von den Tönen eines See-Elefanten herstammend erahnen ließ. Fischerboote dümpeln. Zwei Bussarde schossen über die Klippe. Unsere Hütte im Wald liegt einsam neben anderen, wir waren die einzigen Gäste. Ein Fenster hatte zwei Einschusslöcher. Im Ort eine katholische Holzkirche, aber geschlossen. Geographische Breite angeblich wie Madrid, kaum zu glauben. Um uns herum ein Wald, dessen Baumstämme stark im Wind schwankten. Kahle Stämme, oben dichter Nadelbewuchs. Gesten noch die postmoderne Architektur Sacramentos, heute diese Kanada-Stimmung, und wir lernten, dass Bäume und Hochhäuser etwas eint: Sie beide treibt Wettbewerb um Sonne in die Höhe.

Die kleine Motelanlage liegt hübsch in diesem Wald gelegen. Und seltsam: Nicht sie, sondern andere, aber ausgebuchte wurden uns empfohlen. Warum war hier noch so viel frei? Wir haben es nicht herausgefunden. Die Besitzerin spielte auf ihren Mann an, wenn der noch da wäre, ja dann wäre vieles einfacher. Wir erfuhren: er war gestorben, jetzt im März, und alleine wird sie das Motel, das in der Tat an vielen Stellen renovierungsbedürftig ist, nicht halten können. Wir blieben insgesamt drei Nächte. Sie wirkte erschüttert, etwas aufgelöst und desorientiert. Sie lächelte. All the best to you, Mrs. Bishop.

In der Nähe von Trinidad liegt der größere Ort Eureka, in der Mitte der Humboldt-Bay. Wir fragten jemanden, warum der Ort Eureka heiße, denn das stamme ja wohl vom griechischen Heureka, „ich habe es gefunden“, und meint die Lösung des griechischen Mathematikers Archimedes auf die Frage, wie man den Goldanteil einer Königskrone ermitteln könne (durch das spezifische Gewicht – archimedisches Prinzip). Die Antwort war knapp und typisch amerikanisch: Weil hier jemand mal Gold gefunden hatte und Heureka! rief. Er löste einen Goldrausch aus, der bald verrauschte, und die Stadt konzentrierte sich auf Fischfang und Holzindustrie.

Humboldt-Bay ist eine Boddenlandschaft mit Marsch und einer Nehrung, jedoch bei geringer Tide. Alexander von Humboldt war nie hier gewesen, aber der Name war damals berühmt gewesen, und ihm zu Ehren nannten zwei deutsche Seefahrer die Bucht nach ihm. Viktorianische Villen aus Holz, gut erhalten oder restauriert, säumen den Straßenzug. Studenten von der Humboldt State University mit Gitarren auf dem Rücken schlendern bei rot über die Ampel. Der liebliche Eindruck täuscht darüber hinweg, dass gerade hier der Genozid

gegenüber den Ureinwohnern stark ausgeprägt war. Es überlebten nur so wenige, dass hier, in Nordkalifornien, kaum mehr Reservate eingerichtet werden mussten. Hätte Humboldt dies gewusst, er hätte auf die Ehre, Namenspatron zu sein, gewiss verzichtet. Alexander von Humboldt war in den USA gewesen, aber nur an der Ostküste. Am 14. Mai 1804 besuchte er den Präsidenten Thomas Jefferson. Die USA hatten gerade mit dem „great purchase“; dem großen Einkauf, das Gebiet Louisiana, zu dem weitere heutige Bundesstaaten gehörten, für 27 Millionen Dollar von Napoleon gekauft und damit ihr Gebiet locker verdoppelt. So treffen zwei selbstbewusste Aufklärer in Humboldt und Jefferson aufeinander, indem jener „shocking anecdotes“ über europäische Höfe erzählt hatte. Man schüttelte einvernehmlich die Köpfe. Mit dieser Aristokratie, das gehe so nicht in der Welt. Das Capitol in Washington war gerade im Entstehen, Humboldt sah es als Baustelle. Jefferson war von Humboldts Berichten über Südamerika sichtlich beeindruckt. Die Gegend werde eines Tages wichtig für die USA, soll er gesagt haben. Dem damaligen Außenminister James Madison schlug Humboldt den Bau eines Kanals bei Panama vor. Das wäre doch mal eine Idee!

Ich weiß nicht, was Humboldt auf seinen Reisen an Weisheiten so gehört hat. Ich erinnere mich an eine, ich glaube ein alter zahnloser Ire war’s, der sagte mir einmal, als ich über Deutschland so berichtete: Yes, it’s nice to be important, but it’s more important to be nice“ (Es ist nett, wichtig zu sein, aber es ist wichtiger, nett zu sein).

 

Oregon

In diesem Staat nördlich von Kalifornien leben durchschnittlich 2 Personen pro Quadratkilometer, davon die Hälfte in Portland. (zum Vergleich: 246 Menschen leben im ähnlich großen Großbritannien pro Quadratkilometer). Bedenkt man, dass die andere Hälfte ständig mir ihren Autos unterwegs ist, fragt man sich wo dort überhaupt noch Menschen sich aufhalten. Vom Süden Einfahrende werden begrüßt mit Schildern, die am Straßenrand stehen: „We honor Veterans“ (Wir ehren Veteranen). Das ist löblich. Gebührt denen, die große Gefahren eingehen im Feindesland, um ihre Freiheit zu verteidigen, doch alle Ehre und alles Entgegenkommen. Und so kommt es denn, dass Oregon ein Rentnerparadies ist, zumal es sich hier preiswerter lebt als in Kalifornien: Oregon verzichtet auf die Mehrwertsteuer, hier  sind die Rentengelder des Nachbarstaates willkommen. Der schöne Satz am Straßenrand bekommt etwas zweideutiges.

In Gold Beach wohnen wir in einem Hotel mit Panoramablick auf den Pazifik. Zwei Sessel stehen vor dem großen Fenster, ein wenig Wein, ein wenig Käse, und wir chillen ab. Am nächsten Tag fahren wir mit einem Jet-Boat rund hundert Meilen über Stromschnellen einen reißenden Fluss hinauf, das Boot hält an markanten Punkten, und tatsächlich: die Teleobjektive recken sich in die Höhe, ein Klicken und Surren geht durch die Foto-Geräte, oh look there: Weißkopfadler, immerhin das Wappentier der USA, hier leben vereinzelte Exemplare, sitzen hoch oben in den Baumkronen und sehen wie Wächter den Flusslauf entlang. Zwischen diesen Naturstopps folgen immer wieder Disneyland-artige Einlagen des Jet-Boat-Fahrers, der das Boot unter dem Jubeln der Touristen in Zick-Zack- und Achterbahnkurven legt, abrupt bremst, Wasser aufwirbelt, in seinen eigenen Heckwellen tanzt, und dann kommt die nächste naturkundliche Einlage, während der das Boot leise an einem Adlerhorst vorbei gleitet.

Ab dann regnet es an der Küste. Im Örtchen mit dem völlig falsche Assoziationen weckenden  Namen „Florence“ schwimmen wir auf der Straße davon. Wir verzichten auf die Dünenwelt mit ihren riesigen Wanderdünen, die teilweise bis 160 Meter hoch wehen sollen – aber man kann nicht alles haben. Kleine Szene am Rande: Wir sahen eine Biker-Gruppe bereits graubärtiger Herren in Lederkluft und Cowboy-Hüten, da standen sie nun im strömenden Regen. Die chromblitzenden Maschinen waren allesamt Marke Harley Davidson oder Gold Wing, nur die Fahrer standen unter einem Holzdach und murrten köstlich, und als wir mit Regenschirmen vorbeigingen, rief ihr Alphatier: „You want to buy a motorcycle?“ Wir verneinten und lachten uns zu.

Also kehren wir ins Landesinnere, das sogleich trockner wird. Unser Ziel heißt „Sisters“, ein Western-Städtchen benannt nach drei erloschenen Vulkanen in der Nähe. Hier die nächste Superlative: Wir fahren über den McKenzie-Pass in engen Serpentinen bis ins Schneegebiet hinein. Wir stoßen auf ein mystisches Lavafeld, das sich über zweihundert Quadratkilometer erstreckt. Seit dem Ausbruch vor 1800 Jahren liegt hier messerscharfkantiger, wie Bimstein luftblasendurchsetzter Fels, der nie verrotten wird, dunkel, tot, unübersehbar, mit seltsamen Inseln des Baumbewuchs, kalt und lebensfeindlich. Auf ewig schnurgeraden Straßen rollen wir uns Tal hinab, ich habe eine CD von J.J.Cale gekauft mit Liedern, die ich noch nicht kenne, und Scheiben runtergedreht, rollen wir im Jeep in die grüne Wildnis am Creek, und beziehen für drei Nächte eine Blockhütte am Wildbach, mit Kamin, den wir anzündeten.

Ich las übrigens John Steinecks „Tortilla Flat“, eine wunderbare pikareske story um outlaws in Kalifornien, „paisanons“, wie die Mischlinge aus Latinos, Schwarzen und Indianern heißen. Das schönste Wort, das ich dabei lernte, lautet „quixotic“ (gesprochen kiechotick) und meint weltfremd, edelmütig, eben wie Don Quichote. Der aber las wie ich gerne weltfremde Bücher, und das Wörtchen quixotic murmelten wir am Kamin der Blockhütte ständig vor uns hin. Seien wir ruhig ein wenig quixotic im Leben.

Viele Schilder am Straßenrand lauten: Jesus died for our sins (Jesus starb für unsere Sünden). Nur Jesus? Oregon muss sehr religiös sein. Um das Thema näher zu erkunden, fehlte leider die Zeit. Stattdessen bestiegen wir am nächsten Tag den „Black Butte“ mit seinen gemächlichen 2200 Metern, jedoch war die Spitze, als wir oben ankamen, in Sturm und Wolken gehüllt. Wir griffen zur Wanderkarte und wenn wir auf einen Kompass angewiesen gewesen wären, hätten wir hier im Nordwesten der USA eine Kompassdeklination von immerhin 18 Grad zu berücksichtigen. Dieser Winkel ergibt sich, weil der magnetische Nordpol nicht dort ist, wo der geographische, sondern in Richtung Hudson Bay versetzt. In Mitteleuropa beträgt diese Kompassungenauigkeit nur wenige Grad, aber hier fiel das ins Gewicht. Zum Glück fanden wir unsere Wege auch ohne Kompass. Im Unterschied zu den dicken Stadtwalzen sind naturverbundene Amerikaner, die wie die Neffen Donald Ducks, Tick Trick und Track, als Pfadfinder dem „Fähnchen Fieselschweif“ angehören, eher schlau und schlank. Uns fiel der Slogan ein: Der Geodät hält Diät.

Es gibt ein Umweltbewusstsein in den USA, und es ist nicht viel anders motiviert als bei uns, aber in den Erscheinungen zuweilen etwas funny. Umweltbewusst heißt bei den meisten: Sauberkeit, kein Dreck, aber bitte ohne Einschränkung im Konsum. An Schildern, auf denen illegales Müll-Wegwerfen mit 1000 Dollar Strafe bewehrt ist, fahren zumeist Autos vorbei, die locker 15 – 20 Liter Sprit verbrauchen, ohne viel geladen zu haben. So wirkt vieles hier im naiven Sinn „adrett“, während es außerhalb großer Städte so gut wie keinen öffentlichen Nahverkehr gibt. Städte sind so angelegt, dass man von einer Straßenseite zur anderen lieber mit dem Auto fährt. Normale Fußgänger sind außer in San Francisco und Seattle selten zu sehen. Los Angeles ist flächenmäßig eine der größten Städte der Welt, architektonisch – abgesehen von der Downtown – ein riesiges Gebiet fast nur einstöckiger Bauten. Die Abhängigkeit von Öl ist in dieser Volkswirtschaft umfassend. Die USA würden um Öl jede Art von Krieg führen.

 

Mount Rainier

 Im Staat Washington ganz oben im äußersten Nordwesten (nicht zu verwechseln mit der Hauptstadt Washington DC an der Ostküste, heißt die Hauptstadt Olympia, nicht Seattle, so wie die Hauptstadt von Oregon nicht Portland, sondern das klitzekleine Salem ist, ein merkwürdiger Umstand, den dir niemand erklären kann) gibt es eine Reihe aktiver Vulkane, die auf der Linie des St. Andreas-Grabens liegen. Dieser Graben, eine Art Bügelfalte zwischen der amerikanischen und der pazifischen Platte, hat die bedenkliche Eigenschaft, sich immer mehr einzufalten, so dass Geologen den bereits überfälligen „Big One“ erwarten, jenes überfällige Super-Erdbeben, das Ausmaße einer kontinentalen Müllschluckeranlage hätte. Eine Begleiterscheinung sind Vulkanausbrüche, wie der des Mount St. Helens, bei dem 1980 sage und schreibe vierhundert Meter von der Bergspitze explodiert und abgetragen wurden. Es entstand eine innere Kraterwand, die im Halbrund sechshundert Meter in die Tiefe gähnt. Die Ereignisse werden im Film „Dantes Peak“ mit dem schönen Pierce Brosnan eindrucksvoll nacherzählt.

Nördlich davon steht noch höher und größer der Mount Rainier, immerhin 14.000 Fuß hoch, mit diversen Gletschern und Schneefeldern. Ein seltsames Glück hatten wir: seit Tagen soll es hier geregnet haben, bei unserer Ankunft eben auch, so dass wir die Hoffnung, dieses schönen Berggebildes ansichtig zu werden, schon aufgaben. Wir sahen uns schon mit Dosenbier und kalifornischem Wein den nächsten Tag verbringen, da: Da strahlte am nächsten Morgen der Himmel stahlblau und ohne Wölkchen über aller Landschaft. Mit Wanderausrüstung stiegen wir los, und kamen über steile Kanten, glitschige Schneefelder bis auf 7800 Fuß. Einige Bergsteiger waren zwar unterwegs, einige kehrten um, einige suchten zum Übernachten ein Basislager auf, wir wurden gewarnt: „mind the avalanches“, meidet Lawinen. Auf einem Felsvorsprung angekommen, hatten wir auf dem „Skyline-View“ genannten Plateau einen atemberaubenden Blick auf die Vulkankette in Richtung Süden. Mount Hood sah ähnlich aus wie der Berg als Logo der Paramount-Pictures im Vorspann so vieler Hollywood-Filme. auch erinnerte er mich an den Berg in Steven Spielbergs „unheimliche Begegnung der dritten Art“, und es ist zwar völlig bekloppt, aber angesichts dieser Naturherrlichkeit fielen mir immer nur  Vergleiche aus dem Kintopp ein. Deutlich zu sehen die explodierte Kraterwand des Mount St. Helens. Der Berg, auf dessen Südflanke wir standen (ganz hoch ging ja nicht, dazu hätte auch die Kondition gefehlt), Mount Rainier, gilt wegen seiner Nähe zur Millionenstadt Seattle als gefährlich. Der letzte Ausbruch wurde auf 500 – 600 Jahre zurückdatiert, also und übrigens in jenem Jahrhundert, als Amerika von den Europäern entdeckt wurde – wohl wie ein großes Protest-Spucken kotzte der Berg. Nachvollziehbar.

 

Jimi Hendrix

Nun zu etwas ganz anderem: In diesem Jahr, 2012, wäre ein Mensch siebzig Jahre alt geworden, wenn er nicht mit 28 Jahren unter unklaren Verhältnissen in einem Hotelzimmer  gestorben wäre. Er ist der Revolutionär der Gitarrenkunst, er führte den Verzerrer und vieles anderes zur Perfektion: Jimi Hendrix. Voodoo-Child, bei dem Lied bekomme ich Gänsehaut, denn, falls ich es noch nicht gesagt haben sollte, fürchte ich Voodoo-Wirklichkeiten, Hey Joe, diese poetische Rockballade, die auch Deep Purple meisterlich coverte, man kann von der Musik halten was man will: Unsterblich aber machte ihn eine Passage, kaum fünf Minuten lang, in Woodstock 1969, als er auf dem Höhepunkt des Vietnam-Krieges die amerikanische Nationalhymne spielte. Man höre sich das an: Wie er  sie anklingen lässt, gerade so, dass man die Hymne erkennt, und die Töne dann so verzerrt, dass mit den Tonbögen fallende Bomben, pfeifende Granaten, tackernde Maschinengewehre, und dazwischen immer wieder die heulenden herzzerreißenden Klagen der Opfer mit den Saiten zitiert, dass die Seele zittert. Wie ein nüchterner schwarzer Racheengel steht er auf der Bühne, jung, Mitte zwanzig, und zerrt der amerikanischen Nation die Nerven lang, bis es quietscht. Und wieder erkennbare Töne der Hymne, und nicht enden wollendes Heulen des Todes, das unmittelbar aus den Herzen falschen Patriotismus herausjammert. Jimi Hendrix ist neben Häuptling Seattle, dem stolzen  Chief der kapitulierenden Indianer und Namenspatron der liberalen Stadt ihr zweiter großer Sohn, dessen Grab-Monument im Vorort Renton steht. Auf einer der schwarzen Marmorplatten steht:

„Straight Ahead

Woman an Child

Man and Wife

the Best Love to Have

is Love of Life

Pass

it on”

Die zahlreichen Friedhofsbesucher, unter ihnen viele Schwarze, fahren übrigens mit ihren großen Geländewagen direkt zum Grabmal, eine bei uns undenkbare Unart. Wir parkten übrigens draußen.

 

Seattle

Hotel Hampton Inn, 5 th Ave North, direkt neben einer sog. „Bill und Melinda Gates Foundation“, fünf Minuten Weg zur „Space Needle“ (Weltraum-Nadel), wir fuhren auf diesen fragilen, an drei aneinander gelehnte Salzstangen mit Untertasse erinnernden Turm, wir haben einen atemberaubenden Blick auf die Bucht, auf die Downtown, auf die ganze Stadt. Es ist unser  21. Hochzeitstag, zu dessen Anlass wir uns sündhaft teuren Wein gönnen, der auch noch in Plastikgläsern gereicht wird, aber einen schöneren Anstoß-Ort gibt es nicht. Danach haben wir in der Downtown gegessen, ich habe eine gewisse Vorliebe für das sog. „Alaska Amber Beer“ entwickelt.

Am nächsten Tag wollte Anett auf städtische Foto-Safari, ich durch die Bibliotheken stöbern. Die Public Library in der Madison Ecke 4th Ave ist ein schmucker neuer Glasbau mit zehn riesigen Etagen Kunst und Kultur, jedem, wirklich jedem zugänglich, nun, ich recherchierte ein bisschen, fand das Material zu den Reisen Humboldts in die USA (siehe oben), zu den amerikanischen Philosophen William James, George Santayana, Benjamin Rush. Was man auf solch einer Reise eben so braucht. Von einem heute lebenden Ethiker namens Thomas Nagel fand ich in seinem Essayband „Secular Philosophy and the religious Temperament“ (2010) gleich zu Anfang einen Satz, den der Autor mit kühler Nonchalance und zugleich amerikanischem Pragmatismus hinsetzt:

„Analytic philosophy as a historical movement has not done much to provide an alternative to the consolations of religion.” Zu deutsch etwa: Analytische Philosophie als historische Bewegung hat noch nicht viel geboten als Alternative zu den Tröstungen der Religion. Punktum. Der Mann hat recht.

Mir gegenüber saß eine Frau, etwa vierzig Jahre alt mochte sie gewesen sein, die blätterte in einem Buch alter englischer Poesie. Ich sah, wie ihr Finger die Zeilen herunterfuhr, dann unten am Seitenende verharrte. Dann sah ich, die Frau schlief. Wachte auf, blätterte etwas, schlief wieder. Manchmal blickte sie scheu zu mir, dann bohrte ihr Finger im Inhaltsverzeichnis, dann schlief sie wieder ein. Seltsam, dachte ich. Als ich zur Toilette ging, standen an den Waschbecken zwei Männer, einer rasierte sich, einer wusch sich. Im Klo ein dritter, der sich umzog und irgend einen Overall in einen Rucksack presste. Ich ging weiter. Vor dem Fahrstuhl völlig übermüdet dreinblickende Menschen, die nimmer wegen hoher Kunst oder Philosophie sich hier aufhielten. Mir war mulmig, ich ging. Draußen eine Frau, mittleren Alters, gut in der Kondition und im Aussehen, die uns (ich traf inzwischen wieder Anett) anbettelte, sie habe keine Unterkunft, ein Hotel koste 16 Dollar. Auch das ist Amerika.

Seattle ist der Stammsitz dreier Firmen, deren Namen hin und wieder in unserem Alltag auftauchen: Starbucks, eine Kaffee-Haus-Betrieb, dann eine Software-Firma namens Microsoft (nach einem Umzug von Albuquerque / Neu Mexiko) und ein Fluggeräte-Hersteller mit dem komischen Namen Boing. Gleich neben den Boing-Werken mit eigener Lande- und Startbahn befindet sich ein Flight Museum mit vielen originalen Exponaten. Als alter Flugbegeisteter konnte ich mir das nicht entgehen lassen, da musste Anett durch, und der Leser nun auch..

Das Verhältnis von Kriegs- und ziviler Luftfahrt ist zwar gut dargestellt und kommentiert, aber die größere Zahl der Exponate stammt aus dem militärischen Bereich. Das ist schade und ungerecht. Zwar wäre unser heute bekannter Reisekomfort nach gerade mal hundert Jahren Luftfahrtgeschichte ohne den Stresswettbewerb in der Kriegsflugtechnologie definitiv nicht möglich geworden, man denke nur an den Druck der Nazis, Düsentriebwerke zu entwickeln, um die hoch fliegenden „Flying Fortresses“ von Boing schneller als Abfangjäger erreichen zu können, Prototypen, die in der Technologie wenig später von der UdSSR und den USA im Koreakrieg erst in Serie gingen. Man denke an die deutschen Ingenieure wie Wernher von Braun, der unter dem Raketenprofessor Hermann Oberth in Peenemünde die ersten Raketen in den Himmel schoss, dann in die USA ging und die Trägerraketen für die Gemini- und Apollo-Missionen baute. Aber das wäre einseitig. Der Wettbewerb in der zivilen Luftfahrt – etwa die Postfliegerei – kennt eben so viele Impulse, die zu dem heute bekannten Standard führten. Dies ist in diesem Museum schief dargestellt, überdacht von einem auffälligen Patriotismus, der sich mit allen Leistungen verbindet. Amerika ist der Gute, der stets gegen das Böse kämpft. Ein Helikopter Bell-UH 1 der Army, der vorzugsweise in Vietnam eingesetzt wurde (das sind die Heuschrecken, die in „Apocalypse Now“ zu Wagners Walkürenritt die vietnamesische Zivilbevölkerung jagt), ist in diesem Museum vollbewaffnet mit Maschinengewehren ausgestellt!, eine Schande, die nicht sein müsste. Papas heben ihre Söhne in die Höhe und erklären ihnen alle Details dazu. Eine Lockheed Blackbird („Amsel“) ist ausgestellt, ein Angst einflößender Vogel, der viele Jahre den Geschwindigkeitsrekord von Mach 3,2 hielt, das sind ca. 3400 Sachen, dreifache Schallgeschwindigkeit, hier im numinosen Original zu sehen.

Die alte Air Force One stand da. Was ist das? Das ist die Präsidentenmaschine. Solche Maschinen haben die Eigenschaft, Unikate zu sein. Diese ist nun ausgemustert. Aber zu besichtigen. Eine Schlange vor dem Heckeinstieg, eine Klapperschlange, denn am ihren Ende dreht ein kleiner Junge eine Rassel. Der Einlasskontrolleur erzählte uns, als er merkte, dass wir Deutsche sind, er war früher in der Nähe von Düsseldorf  bei einer AWACS-Staffel stationiert gewesen, diese großen Aufklärungsflugzeuge mit dem Teller oben drauf, mit dem sie über den Tellerrand der westlichen Welt in die Suppe internationaler Spitzbuben-Staaten blicken können. Heute, als Pensionär, trägt er sein Volunteer-Dasein mit Würde. Er lächelt und meint es ernst. Er unterhält die Wartenden, und er ist eine Autorität, eine freiwillige. Dann gab er uns das Go und wir steigen die Stairway im Heck hoch, sehen als erstes hinter Plexiglas die Klodeckel , die die Ärsche der Präsidentenberater getragen haben. Die Präsidenten-Familie durfte mit an Bord sein, die der anderen nicht. Das rote Telefon ist cremefarben und steht links auf dem Konferenztisch, der vor dem Bauch des Präsidenten wie ausgesägt ist, er sitzt nicht wie die anderen am Tischrund, sondern thront gleichsam im Tisch. Kennedy saß hier, Johnson, Nixon, als die Kuba-Krise war, der Vietnam-Krieg, als sie zu Konferenzen, Sitzungen oder Opernbesuchen flogen. Wir lernten, dass übrigens jede Maschine, in der der Präsident sich befindet, automatisch zur Air Force One wird. Mit dem Telefon konnten Radio-Ansprachen übermittelt werden, und links davon steht ein Klapperkasten mit Tastatur, das war die alte Telex-Technik mit Lochstreifen. Es wirkt alles sehr eng. Die Boing 707 ist klein, man bewegt sich wie in einem U-Boot. Die Maschine wurde auch „Doomsday“-Maschine genannt, also „Jüngster Tag“, weil sie am D-Day, den Tag des großen atomaren Overkills, dem Präsidenten als letzter Kommandostand nah der Stratosphäre dienen sollte. Uns fror.

Mit diesem apokalyptischen Eindruck, der kein Höhepunkt unserer Reise war, fuhren wir ein paar Meter zum Airport von Seattle weiter, gaben das schöne Auto ab, bestiegen einen Airbus (ätsch, Boing!) und flogen in die Alte Welt zurück, in die Stadt, an deren Rand Otto Lilienthal das Fliegen begann. Wie niedlich hatte die Reise begonnen, mit dem Merry-go-round in Santa Monica, den See-Elephanten, den Segelflieger-Staffeln der Pelikane, den possierlichen Erdmännchen. Als die Adler kamen, wurde es unheimlich. Bleiben wir quixotic.