Brief einer Eintagsfliege

Unserm Pastor, der längst von der Ewigkeit in die Zeit gefallen ist, war die Uhr stehen geblieben, und ich hatte sie zur Reparatur bei mir. Das Gehäuse war offen und schloss nicht mehr, auch war der Glasdeckel zerbrochen, und die Mechanik klemmte. Als ich unter der Lupe im Räderwerk nach dem Fehler suchte, fand ich zwischen zwei Zahnrädchen ein helles flockiges Staubkörnchen, das mir beim näheren Hinsehen sehr rechteckig vorkam. Mit einer Pinzette zog ich es heraus und legte es unter mein Mikroskop, und besah mir das helle Plättchen. Wie staunte ich, so etwas wie Zeilen auf diesem kleinen Rechteck zu erkennen! Nach langer Vergrößerungs-Arbeit hatte ich eine Textstruktur vor mir. Nach aufwendiger Transkriptionsarbeit konnte bald mit der Entschlüsselung begonnen werden. Und so lautet der Text:

Liebe Eltern. Es ist schon so viel Zeit vergangen, seit ich euch das letzte Mal schrieb. Habt ihr den letzten Brief erhalten? Die Sonne stand damals noch ganz im Osten, jetzt, da inzwischen so viel passiert ist, steht sie im Süden und leuchtet herrlich warm auf uns im Licht schwirrenden Fliegen nieder. Es ist eine Lust zu fliegen. Manche von uns kreisen um Planeten, die links und rechts ihrer Kugelwölbung seltsame Trichter haben, Krater mit tiefen Löchern, manchmal hängen lange Strähnen über sie, manchmal haben diese Planeten gar keine Strähnen und sind ganz kahl. Auf einer Nasenspitze saß ich gerade. Unter ihr sind zwei Löcher, aus denen wechselseitig – äußerst gefährlich – mal Wind von außen eingesaugt, mal warmer Wind wieder heraus geblasen wurde. Da flog eine kleine Fliege heran, ich gab ihr Zeichen, sie solle aufpassen, und sie entging so dem Luftstrom. Ich will’s kurz machen: Wir wurden Freunde, und als eine große Hand uns verscheuchte, wirbelten wir bis über einen Eisbecher und setzten uns auf die kühle Erdbeerkugel. Sie saugte im Rosa des Eises und wischte sich mit ihrem fünften Beinchen den Mund, und sah mich schalkhaft an. Was soll ich sagen, damals verliebten wir uns, und seit zwei Stunden nun sind wir schon ein Paar. Inzwischen ist viel Zeit vergangen, etwa eine halbe Stunde, und wir haben uns in einem dicken Brotkrümel eingerichtet. Sie ist gerade unterwegs, und ich habe etwas Furcht: Es liegt nun schon lange zurück, aber neulich vor fünfzehn Minuten war’s, da mussten wir miterleben, wie ein guter Freund von mir, den ich noch vom frühen Morgen kannte, in einem Aschenbecher saß, und ihn eine heiße Lava von oben traf. Es war entsetzlich für uns, das mitzuerleben, deshalb habe ich immer etwas Furcht, wenn ich sie so alleine wegfliegen sehe. — Da sie noch nicht wieder zurück ist, habe ich Zeit zum Schreiben. Wie einmalig ist diese Welt! Die Dunkelheit am Lebensmorgen ist vergangen, und es ist immer nur Tag. Wir alle, die wir in der Dämmerung geschlüpft sind aus unseren kleinen Eiern, und das langweilige Larvenstadium beendeten, haben den Tag für uns. Ein Freund sagte früher einmal, es war so gegen zehn Uhr, der weiseste Spruch für uns Eintagsfliegen sei „nutze den Tag!“. Was bedeutet das? Wenn die Sonne dunkler wird, wie viele glauben, ist dann alles vorbei? Klar, meine Härchen werden langsam grau. Aber gibt es etwas anderes als diesen Tag? Gibt es viele Tage? Das kann ich mir kaum vorstellen. Denn was sollte zwischen den Tagen sein? Keine Sonne? Ist sie mal da, und mal nicht? Dieses riesige Ding? Für mich ist sie immer da, das ist doch klar. Gut, es gibt Wolken, die alles etwas dunkler machen, aber nur ein bisschen, es stört uns kaum, und da haben wir gelernt, in der Eintagsschule, dass die Sonne trotzdem scheint, nämlich hinter den Wolken. Ich rede so viel, und die Zeit vergeht. Wo bleibt meine Freundin nur? Ich wollte den Brief zur Post bringen, die Pollen fliegen gerade gut im Wind, da kann ich den Brief bequem an einer Polle festklemmen. –  Nebenan in einem Marmeladenfleck wohnt ein Kumpel, der schon seine Midlife-crisis hat, wie er sagt, naja, er hat gut reden, in seiner Marmelade muss er nicht mehr arbeiten gehen. Es ist nun vierzehn Uhr, und es ist schwül, da schwitzt man leicht. – Wo bleibt sie nur? Jetzt regnet es! Ich mache mir ernsthafte Sorgen! Da! Es kracht und blitzt. — Später…Das Gewitter hat mehrere Jahre gedauert, fast sechzig Minuten, und sie kam nicht zurück. Ich war nah der Verzweiflung. Da hörte ich einen großen schabenden Lärm, wie wenn Blech über Stein kratzt, ich blickte aus meinem Krümelhäuschen heraus, und da sah ich eine riesige Kehrschaufel auf mich zurasen, und schwupps! landete ich mitsamt unserem Häuschen auf der Schippe, und die ganze Siedlung flog auf der Schippe wippend durch die Luft, was soll ich sagen, ich nahm meine Siebensachen, die Eierbecher, die wir seit Stunden sammelten, und flog in ein großes Gebirge hinauf. Dort oben, auf dem höchsten Berg, den sie den „Schrank“ nennen (komisches Wort!), über zweitausend und fünfhundert Millimeter hoch, war zunächst kaum eine Fliege zu sehen. Dort hatten einige Mutige von uns gerade eine Käsemilbe erlegt, und abseits stand eine Gruppe Eintagsfliegen, und da! Da war sie! Wir liefen mit unsern sechs Beinchen aufeinander zu und umarmten uns. Wir kamen kaum voneinander los, so waren wir mit den Beinchen verknotet. Um ein wenig ungestört zu sein, suchten wir ein Plätzchen auf dem riesigen „Schrank“, bis wir ein lautes Ticken hörten. Wir kamen näher und hielten uns die Ohren zu. Das riesige Ding hatte ein goldenes Gehäuse. Geht da nicht hin, sagte jemand, das ist eine fürchterliche Maschine, die euch zermalmt. Ein kleiner Mensch habe sie hier auf dem Schrank versteckt, weil sie ihm runter gefallen war, und nun suchte ein großer Mensch ständig nach dieser Maschine. Doch die Maschine wird immer leiser, das Ticken schwächer, ganz so, wie es draußen dunkler wird. Gebt acht! Nun steht sie still. Man kann hinein und es sieht aus wie eine goldene Blüte… Wieder später…Nun setze ich zum dritten Mal an in diesem Brief, und fühle mich alt und grau. Durch das Fenster kommt kein Licht mehr, aber es ist immer noch ein Licht in diesem Gebirge, es hängt etwas höher als der Schrank ragt, in der Mitte dieses Zimmers. Unten liegt eine Fußmatte im Badezimmer, auf der steht carpe diem! Haben wir den Tag genutzt? Ich weiß es nicht. Wir haben unsere Eier versorgt, und ich ende diesen Brief an euch in der Hoffnung, dass ihn jemand findet und ihn der Pollenpost übergibt, am besten in eine gelbe Blüte einwirft. Mir ist seltsam müde zumut. Wir haben uns im Gehäuse dieser großen, nun stehen gebliebenen Maschine eingenistet, und es ist immer noch hell. Hoffentlich bleibt es für uns alle hell.

 

So weit der Brief. Wir fürchten, die Übersetzung aus dem Eintagsfliegischen ist nicht immer wohl geraten. Die Uhr geht übrigens wieder, der Uhrmacher konnte auch den Glasdeckel ersetzen, und er hat’s dem Herrn Pastor nicht teuer werden lassen. Sein Bengel hat’s  ihm gedankt.