Seychellen

Tropische Inseln. Auf den Seychellen

 

Reiseberichte enthalten für gewöhnlich reportagehaltige Mixturen aus Reiselogistik und Touristentalk, von wo nach wo man geflogen sei, wo man umgestiegen sei, wie lange alles gedauert hat und wie nett die Stewardessen waren. Wir beginnen dieses Mal anders, nämlich mit einer lyrischen Meditation, wie sie original am Strand der Seychellen entstanden ist, notiert wurde, und hier als Einstimmung dienen soll. Wir bitten auf die feinsinnige Seelenlage des lyrischen Ichs zu achten. Das Gedicht lautet:

Ich liege gern mit meinem Mädel

unter einem Palmenwedel.

Ist das nicht empfindsam ausgedrückt? Wir möchten uns in die nähere Interpretation dieses Zweizeilers begeben, die ihrerseits ebenfalls am Strand entstanden ist, und wir bitten um etwas Geduld.

 

Wolkenfilme

Vor blauem Himmel ziehen Wolken vorüber, und wer auf dem Rücken im Gras oder am Strand liegt, kann zu ihnen hochsehen, wie sie sich dort räkeln, verändern, ineinander schieben, auseinander driften, quellen wie Blumenkohl, auflösen wie Zuckerwatte an der ein Leckermäulchen zieht, die im Wind fortziehen wie ein Filmstreifen: Wolkenbilder.

Es sind Bilder. Sie zu erkennen hat unsere Phantasie leichtes Spiel, denn jedem fällt es ein, in dieser Ballung eine Nase, in jenem Wolkenloch ein Auge zu erkennen, und schon drohen oder lachen die kuriosesten Gesichter, oft affenähnlich mit entstellten, vertierten Zügen, oft einen leibhaftigen Löwen kurz vor dem Sprung vorstellend. Heute sah ich in voller Muße, die so unabdingbare Voraussetzung scheint wie gelassene Bedürfnislosigkeit, solch Wolkenfilme zu sehen, heute also sah ich beispielsweise einen liegenden Weihnachmann, – obwohl meiner Liegeposition, die ich hier auf den Seychellen am Strand einnahm, nichts ferner lag als dessen Jahreszeit oder sein getriebener Geschenkewahn, – aus dem Mann mit Zipfelmütze und Rauschebart ergab sich sodann ein Elefantenkopf, dann eine Maus, dann ein Totenschädel, dann eine Schnecke mit ihrem aufgetürmten Gehäuse. Ich weiß nicht, warum. Zu schnell wechseln in Wolkenfilmen die Gestalten, um auch nur einer in mir nachzugehen oder den Gründen, warum gerade eine Tänzerin in mir als Bild entsteht, und warum eher Schmetterlinge, aber keine Spinnen; Schwäne, doch keine Schlangen; lachende Münder, doch keine geschlossenen Lippen; Wassernixen, doch keine Einhörner; Adler, doch keine Tauben. Welcher Wettergott inszeniert diese Filme, um welche Bilder in mir anzuregen, hier, am Strand einer südlichen Bucht auf den Seychellen. Je ruhiger ich zu liegen scheine, desto abenteuerlicher, zuweilen auch desto erotischer gebärden sich die Gestalten. Zu einer Theorie der Gelassenheit könnte diese Selbsterfahrung interessante Hinweise geben. Die Verführung zum müßigen Experiment liegt da nahe: Man frage die neben einem liegende Person, ob sie nicht auch eben dort droben einen schönen Sportwagen gesehen habe? Sie, also die Person, dreht sich zu mir, und ich fragte mich, wie könnte wohl die Antwort auf derlei knabenhafte Phantasterei lauten? „Nein, aber ich sehe einen Krankenwagen, der dich gleich wegfährt.“ Klar, dachte ich, wessen Rücken braun werden soll, dessen Auge kann keine Wolkenfilme sehen. Aber die Antwort war anders, war ebenso gelassen wie die ganze Lage, in der wir uns befanden, nämlich nebeneinander, auf dem Rücken, und wir trieben nun gemeinsam Länderkunde. Denn wir waren uns einig, dort oben in den Wolken war eben noch ein spitz zulaufender Stierkopf mit Hörnern zu sehen, dann aber in der Formation der Erdteil Indien. Wir wurden zu Astronauten, die von ganz weit oben die Konturen von Ländern und Inseln und Erdteilen erkannten. Dies bedarf einer Erläuterung. Inseln haben es beim Konturenraten leichter, sich zu erkennen zu geben, als Festlandstaaten. Sylt? Kein Problem. Die Schweiz? Kriegt man hin. Nepal? Schon schwieriger. Skandinavien kann jeder in geeigneten Wolkenformen erkennen, aber einzelne wie Norwegen? Finnland? Schweden? Wer läge am Strand, blickte in die Wolken und könnte ausrufen: O seht mal, eine Wolke in Form von Bolivien? Von Hessen?  Von Charlottenburg? Von Pankow? Wo, wo, würde man zurückrufen, und kaum ginge der Zeigefinger nach oben, wäre der Film weitergelaufen und schon wäre aus dem Gebilde etwas geworden, über das wir, würden wir es mitteilen, uns trefflich streiten könnten.

Einen Gedanken geschichtsphilosophischer Natur – wir sprechen in solcher Umgebung gern von Natur – gab uns die Äquatorsonne zur Kunst dieser Wolkenfilme ein. Er mag etwas deplaziert klingen, aber ich nehme ihn mit in die Erinnerung dieser Aufzeichnungen, wo er gut aufbewahrt wird, bis jemand ihn vielleicht gebrauchen kann und wieder hervorholt. Ich lag also nun so da, Anett schwamm eine Schnorchelrunde zwischen bunten Fischen, und gleich würden wir zum Mangosaft schreiten, der uns etwas weiter weg an der Strandbar lachte, und ich stieß auf folgende Frage: Die Dramatik eines Wolkenfilms ist abhängig von der Windgeschwindigkeit. Spielen wir einen normalen Film unterschiedlich schnell ab, so ergibt sich Zeitraffer oder Zeitlupe. So hat es mit der Geschwindigkeit des Zeitraffers zu tun, dass Laurel und Hardy witzig aussehen, wenn sie einem Klavier hinterher laufen, das eine ellenlange Treppe hinunterwackelt. Der Langsamkeit einer Zeitlupe verdankt sich die Spannung, mit der Sergio Leone seinen Film Spiel mir das Lied vom Tod einleitet, in dem zu Beginn drei Revolverhelden minutenlang die Schweißtropfen zählen, während sie warten, warten, warten, nämlich auf Charles Bronson, der sie dann niederstreckt. Unser Genuss der Geschichten, die Wolkenfilme erzählen, wird geprägt durch den Wind: Ich meine nicht die Zunahme der Hitze bei Windstille, auch nicht das unangenehme Sandwehen bei Sturm am Strand, ich meine das Sehen der Länder und Inseln in den Wolken: Es ergibt sich mit ihrer Veränderung eine filmische Geschichtsschreibung, deren Wind eine metaphysische Kraft erhält. Die geheimen Kräfte der Weltgeschichte verändern die Grenzen der Länder wie der Wind die Wolkenformen, die ich am Strand über mir sehe. Aus ganz anderem Zusammenhang wird mir plötzlich klar, warum ich dort droben in einer Wolke einen Engel sehen könnte. Einem philosophischen Gleichnis zufolge sehe ich in ihm den Engel unserer Wolkengeschichte, der von einem Wind fortgetrieben wird – der Sturm, der vom Paradies her weht: Denn unser Bemühen, das Paradies zu erreichen, erzeugt Stürme, die uns von dort immer wieder forttreiben. Mit den Paradieswinden auf den Äquatorinseln ist dieser Sturm nicht zu verwechseln, obwohl unsere Winde oft von dort her wehen.

 

Tiere und Piraten

Die Tierwelt auf den Seychellen folgt nicht dem Mythos des tropisch Gefährlichen. Indem die Inseln den landabhängigen Tieren eine natürliche Grenze setzen, wirken sie wie ein Zoo ohne Gitter. Krokodile und Schlangen sollen von den ersten Siedlern als erstes ausgerottet worden sein. Hätten sie nur mit den Strandflöhen angefangen! An der Ekelgrenze bewegen sich die länglichen Tausendfüßler, eigentlich Achtzig-Füßler, Würmer in Schlauchform, die auch beißen können, glibschig aussehen und die im ausgewachsenen Zustand ungefähr das Format einer Thüringer Bratwurst erreichen können. In den Wäldern wohnt die große Seidenspinne. Inklusive Beine ist sie ungefähr faustgroß, tödlich für alle Insekten, Menschen beißt sie nicht und wandert zum Glück auch nicht viel herum. In ihrem rötlichen Schimmer ist sie wunderschön anzusehen, und will man sie fotografieren, wartet sie geduldig und bewegt sich kaum. Ebenfalls völlig ungefährlich, aber wenig geduldig sind die zahlreichen Geckos, kleine Salamander, die gerne an Wänden und Zimmerdecken entlanglaufen und sich manchmal einfach fallen lassen, wir haben nicht herausgefunden, warum. Im Gegensatz zu ihrer Zartheit können sie aber sehr laut krächzen, so als wenn ein Papagei im Stimmbruch wäre.

Der Flughund (Flying Fox) bot Anlass zum Erstaunen. Batman hat sein Flugbild von ihm abgeschaut, er ist segelfähig, und in der Evolution flugfähiger Tiere muss er vor langer Zeit eine Sonderentwicklung eingeschlagen haben. Gleich unserer Fledermäuse ist er ein Säugetier, seine Flügel bestehen nicht aus Federn, sondern aus einer Art dünner Lederhaut, und seine Landetechnik ist phänomenal: Er setzt sich nicht auf Zweige, sondern benutzt diese wie Reckstangen, an denen er mit seinen Pfoten die akrobatische Leistung vollbringt, mit einem Abschwung beim Landen nach vorn überzukippen, um sich nach unten baumeln zu lassen, und so verharrt er dann, an nur einem Bein hängend schläft er tagsüber. Seine Flügel sind dabei so um ihn gefaltet, dass sie aussehen wie ein umgedrehter Regenschirm. Sie fressen gerne Mangos, wobei sich die Mango-Bauern gerne revanchieren und die Flughunde mit Netzen fangen und selbige, gut zugerichtet, mit Curry servieren. Auf den Speisekarten sahen wir diese Formen der Rache freilich nicht.

Erdnäher leben die Riesenschildkröten. Als wäre um ihr Leben herum Windstille, leben sie wie in Zeitupe, was ihre Lebenszeit sehr verlängern soll. Angeblich ist Esmeralda unter ihnen die älteste mit 150 Jahren, was man aber nicht genau weiß, nur, dass ihr Name nicht zu dem Tier passt, da sie nämlich männlich ist. Kennen gelernt haben wir auf der Insel La Digue den Schildkröterich Viu-Viu, 31-jährig, stattliche 80 cm lang und fast eben so breit wie hoch, er lebt mitsammen seines Wirtes, der ein Restaurant betreibt, an einem einsamen Strand namens Anse (kreolisch für Bucht) Banane ganz im Freien, und er mag es, wenn man ihm am Hals krault, dann erhebt er sich mit seinem schweren Panzer. Er tut es sonst nur, wenn es um Futter geht: Obst, Gemüse, Blätter, Schalen. Auf kleineren Inseln laufen sie frei herum, auf größeren in großzügigen Gehegen, sie sind gutmütig, und ihre Population hat sich erholt, nachdem sie ersten Siedlern und Piraten als Nahrungsreservoir gedient hatten. Piraten? Dazu gleich.

Unter Wasser spielten wir beim Schnorcheln „findet Nemo“, jenen bunten telegenen Südseefisch, der orange-weiß-gestreift zwischen Korallen und Haifischzähnen herum schwimmt. Ihn haben wir nicht gefunden, aber seinesgleichen an Farbe und Regenbogen-Transparenz. Dass man Seeigel besser nicht mit Füßen tritt, diese schmerzliche Erfahrung habe ich vor vielen Jahren bereits gemacht, dass man in Strandnähe mit anderen ungewöhnlichen Tieren rechnen muss, merkte ich erst hier, indem ich im flachen Gewässer nichts sah, und dennoch bewegte sich der Sand plötzlich, und schwamm fort. Die Sandfläche hatte einen langen Schwanz und die Form eines Rochens, der sich dort in Sandfarbe tarnte. Witzig waren die Krebse, die in vielerlei Gestalt, kleine wie große, zum ersten Mal uns vormachten, dass ihre Art tatsächlich anders als nur geradeaus laufen kann, nämlich meistes seitwärts. Diese ulkige Form der Fortbewegung muss für sie den Vorteil haben, sich mit ihrer kurzen Körperseite blitzschnell in den Sand vergraben zu können, ängstlich, wie sie sind.

Insgesamt haben wir drei Wanderungen unternommen. Das Problem: sobald man sich wenige Meter vom Strand in den Urwald hinein bewegt, wird die schwüle Hitze fast unerträglich. Dabei gibt es wunderschöne Pflanzen im Inselinneren. Wir sahen endemische (nur auf den Inseln lebende) Kokospalmen, Zimtbäume mit herrlichem Geruch an Rinde und Blättern, und tatsächlich wandernde Palmen, die sich dadurch fortbewegen, indem die Wurzeln nur oberirdisch liegen und durch Neuauswurf in eine eingeschlagene Richtung weiterwachsen. Das konnten wir leider nicht prüfen, weil diese Form der Fortbewegung sehr, sehr langsam verläuft. Palmenwälder haben die Eigenart, dass sie bei Wind kein Laubrauschen erzeugen. Die Palmenblätter sind sehr stabil und steif, und bei Wind rascheln sie nicht, sie krachen aneinander, dass es laut knirscht.

Meine Wolkenfilme wie Pausenfüller durchflogen haben eine wunderschöne – ja: Schwalbenart? Jedenfalls waren diese Segler möwengroß, mit extrem langem Schwanz, den sie zum Steuern benötigen, schneeweiß und dadurch wirkten sie weiß-transparent, wie Sonnenvögel, unschuldig, zauberhaft, Hochzeitsvögel. Weniger mythisch waren aufdringliche Minitauben, die auf Balkonen und Terrassen in Scharen auf Kekse und derlei touristischen Krümelabfall erpicht schienen, so dass selbst europäisches Armwedeln sie kaum vertrieb. Während ich mir erlaubte, neben dem Swimmingpool im Schatten zu sitzen, erdreisteten sie sich zu dritt, auf meiner Lektüre, einem Buch (was sonst) herum zu hacken, als wären sie Literaturkritiker. Na gut, dachte ich, vielleicht waren diese Vögel die Seelen ehemaliger Dichter und Schreiber, vielleicht war unter ihnen auch die Seele von Jules Verne, dessen Roman In Achtzig Tagen um die Welt ich gerade las. Darin steht übrigens der bemerkenswerte Satz:

„Mir fällt auf, dass es nicht ganz umsonst ist, eine Reise zu machen, wenn man etwas Neues sehen will.“ Der Übersetzer muss hier nebenbei gesagt eine kleine Ungenauigkeit übersehen haben: Der dies sagt, der Diener des Gentleman Phileas Fogg, eben der, der die Wette einging, 1870 in der im Titel des Buches genannten Zeitspanne um den Globus zu reisen, meint: Man tut eine Reise nie vergebens, indem man immer etwas Neues lernt, an sich und an den Dingen. Mitzulesen ist in dieser Übersetzung jedoch auch: dass eine Reise nie immer ganz gratis ist. Sie kostet Geld. Unserem Phileas Fogg kostet sie immerhin die Hälfte seines Vermögens, zwanzigtausend Pfund. Nun, so teuer war unsere Seychellen-Reise auf drei ihrer über hundert Inseln wiederum nicht, aber in einem Punkt wurde sie etwas teurer als geplant.

Die Inseln der Seychellen waren, so weit man weiß, vor ihrer Entdeckung durch Vasco da Gama unbewohnt. Einige von ihnen wurden durch Portugiesen besiedelt, die sich, wie alle anderen ihnen folgenden europäischen Mächte, Afrikaner dort als Sklaven hielten. Einige Inseln jedoch wurden von Piraten bewohnt, nicht wie man sich das bei Siedlungen vorstellt mit Hütten, Kirchen und Schulgebäuden, sondern als Rückzugsgebiete und Höhlen und Verstecke, für sich und für ihre Beute. Stephenson’s Schatzinsel könnte eine Seychellen-Insel gewesen sein. Das Schätze-Suchen nun scheint nach wie vor zu den Hobbies jugendlicher Seycelloiser zu gehören. Sie finden diese in den Rucksäcken badender Touristen, die sich einsam der Brandung hingeben, in einer volkssportartigen Beliebtheit, dass wir an einigen Stränden mit Ausübenden dieser Spiele zu rechnen hatten und in einem Fall auch auf eine Polizistin trafen, die in äquatorial-romantischer Strandumgebung auf einem Stein hockte und uns persönlich vor Dieben warnte. Auf Mahé, der größten Insel der Seychellen, begannen wir eine Urwald-Wanderung, die uns zu einer Kolonie von Pitcher Plants, fleischfressenden Pflanzen, und zu einem hochgelegenem Aussichtspunkt führen sollte, und trafen am Beginn des Copolia-Trails einen Polizisten in Uniform und Equipment, der uns, von uns völlig unerwartet, den lieben langen Weg bis zur Hügelspitze eskortierte, um uns vor Überfällen zu beschützen. Sein Name war Kenneth. Wir brachten ihm deutsche Sätze bei, mit denen er junge blonde Besucherinnen beeindrucken wollte (diese Haarfarbe bevorzugte er ganz ausdrücklich), und um später einmal, nach seinem Polizeidienst, Inselführungen in verschiedenen Sprachen anzubieten. Die Inseln leben vom Tourismus, und manchem Einwohner muss solch ein blasses Touristen-Paar vorkommen wie früher eine fette mit Schätzen beladene europäische Jolle, auf die die Piraten lecker waren. Das Ergebnis war, dass uns gleich zu Beginn des Urlaubs, am zweiten Tag auf der Insel La Digue, Euro-Bargeld in nennenswerter dreistelliger Höhe nachts im Nebenzimmer unseres Appartements gestohlen wurde. Schlauerweise wurden keine Pässe und Papiere entwendet, womöglich um die Meldeschwelle der Touristen bei der Polizei niedrig zu halten. Dem Hotel war der Vorgang höchst peinlich, und wir erhielten als Trost ein vorzügliches Abschiedessen bestehend aus zwei Fischen, die uns anglotzten, und allerlei Inselfrüchten, gratis. Diebstahl in welcher Form auch immer muss ein echtes Problem auf den Inseln sein, denn auf den anderen Inseln, die wir besucht haben, wurden uns sogar Safes angeboten. Übrigens war bei all dem das harmloseste Erlebnis die Fleisch fressenden Pflanzen auf Mahé: sie fraßen nicht mehr als Fliegen, man muss sie sich vorstellen wie gelb-rote, Fingerkuppen große Becher mit kleinem Deckel. Sie fressen auch nicht, sie lösen ihre Beute in einer klebrigen säureartigen Flüssigkeit in Nichts auf. Schöner Tod für einen Sandfloh, dem ich solch ein Ende gönne! Anfangs jucken seine Stiche nicht, aber dann hört das Jucken und Kratzen und Kratzen und Jucken überhaupt nicht mehr auf!

 

Alltag und Nicht-alltägliches

Das sind die Seychellen: rund einhundert Inseln zwischen Madagaskar und der Äquatorbreite, mit tropischen Temperaturen, aber einem angenehmen Seewind, mit Stränden, die von Palmen und skurril geschliffenen Granitfelsen wie von Ornamenten umsäumt sind, Stränden, die auf irgendwelchen Weltranglisten auf Platz eins bis fünf rangieren. Insgesamt leben rund 90.000 Seychelloisen verschiedener Wurzeln dort, kreolisch sprechend, eine Mischung aus Französisch und afrikanischen Dialekten, englisch jedoch ist die Amtssprache. Auf der Straße fährt man links, mithin sind die Kolonialerbschaften merkwürdig französisch-englisch durchmischt. Der größte Grundbesitzer ist der Kalif von Abu Dhabi, dessen 50-Meter-Yacht im Hafen der Hauptstadt Viktoria vor sich hin dümpelt, es gibt exklusive Inseln, auf denen eine Übernachtung 3000 Euro und mehr kostet, ganze Inseln sind zu mieten für 49.000 Euro pro Nacht. Das ist nicht teuer, wenn man eben 49.000 Gäste einlädt, bei einer Kostenbeteiligung von einem Euro, was aber daran scheitern dürfte, dass dergleichen Insel-Institutionen nicht mehr als 34 Gäste zur gleichen Zeit zulassen. Eine Reinigungskraft im Hotel oder ein Bauarbeiter verdient etwa 5.000 Rupien pro Monat, das sind etwa 350 Euro. Im westlichen Indischen Ozean ist es der letzte Schrei, Wohnraum auf künstlichen Inseln zu schaffen, man kennt diese Beispiele aus Dubai und weiteren Emiraten. Die Seychellen ziehen da mit und vor der Hauptstadt Viktoria liegen gleich drei davon, eines als Luxus-Ressort für Reiche aus Anrainerstaaten, die nicht wissen wohin mit sich und ihrem Geld. Wir haben diese Insel besichtigt und ziehen natürliche Inseln vor.

Lachhaft unsere mitteleuropäischen Begriffe von jener „sozialen Schere“, die auseinander klappe, vergleicht man sie mit den allerersten Eckdaten jenes Inselstaates, und noch lachhafter, vergleicht man die sozial immer noch hervorragend ausgestatteten Seychellen mit den afrikanischen Ländern, an die ihre von ihnen beanspruchten Seegebiete angrenzen: Somalia, Kenia, Tansania. Die Wohltaten des Kalifes von Abu Dhabi, der Krankenhäuser, Windparkanlagen und dergleichen sponsert und als Gegenleistung ein Hügelanwesen im Schlossformat mitten auf der Hauptinsel und von jeder Richtung gut sehbar erhalten hat, dürfte so selbstlos nicht sein: haben Geologen doch kürzlich erhebliche Ölvorkommen unter dem Meer des Seychellengebietes entdeckt, und nun drücken russische, chinesische und arabische Oligarchen in die Inseln ihre Investitionen hinein, so dass einige Hotelanlagen vor Kraft kaum gehen können. Ohne Witz stößt man mitten im Urwald an der felsigen Küstenkante, kaum zugänglich für Autos, auf eine gigantische Hotelanlage der Kempinski-Gruppe, mit Preisen oberhalb der Tarife des Berliner Adlon. Gleichzeitig stammt vieles der sozialen Einrichtungen aus der proto-sozialistischen Regierungszeit des durch Putsch 1976 an die Macht gekommenen France-Albert René, der die Zugehörigkeit zum Commonwealth aufkündigte und bis 2004 regierte. Inzwischen gibt es freie Wahlen, zu denen sogar mehrere Parteien antreten. Nicht zuletzt durch den doch einsetzenden Umweltschutz bemüht sich der Staat in vieler Hinsicht um westliche Standards. Die fast komplette wirtschaftliche Abhängigkeit vom Tourismus verführt zum Ausbau desselben. Zur Stunde herrscht ein Baustopp für neue Hotelanlagen. Jedoch in einigen Gebieten herrscht rege Bautätigkeit, ungute Geräusche von Hämmern und Betonmaschinen verraten, dass der starre Baustopp etwas halbherzig scheint, oder durch gewisse Schmiermittel etwas biegsamer bleibt.

Die Inseln sind durch Flugverkehr, Hubschrauber oder zumeist durch Fährboote verbunden, wir fuhren mit Katamaran-Geschossen durch hohen Seegang, Bug und Heck schlugen hart aufs Wasser, vielen wurde übel. An den Anlegern herrscht ein Durcheinander von Kartons, Stoffsäcken, Koffern, überall laufen Schwarze in stolzen und immer auf Bügelfalte gehaltenen Uniformen herum, Aufpasser im Gewirr von barfuss laufenden, in Shorts arbeitenden Männern und Frauen, die ergeben tun, was die Uniformierten ansagen, und ansonsten lächeln, lächeln, lächeln. Die Hauptstadt Viktoria leidet unter einem Dauerstau aus Bussen, Autos, Taxen. Die Fahrzeuge brüllen die steilen Hänge hinauf, es wird auf engen, abenteuerlichen Serpentinen gefahren, es geht oft ohne Leitplanke in die steile Tiefe. Bei der Autovermietung hörten wir zwei ungewöhnliche Warnungen: Fahren Sie links, und: parken Sie nicht unter Kokospalmen. Wenn die reifen Früchte fallen, so gibt es Beulen, die keine Versicherung abdeckt. Um mich besser auf die engen Straßen konzentrieren zu können, habe ich einen Wagen mit Automatik-Getriebe genommen, das war mir sicherer. Der Verkehr fließt wenig hektisch, man hilft sich und lässt in Lücken herein, freundlicher geht es zu und freilich langsamer als in Deutschland. Unter den Jugendlichen herrscht ein ausgiebiger Reggae-Kult, Rastafa-Mode zeigt sich in verdrillten Locken, die in Jamaica-farbenen Hauben getragen werden. Eine gewisse Szene hat sich längst breit gemacht, die auf den ersten Blick vermuten lässt, das Modewort „chillen“ (abhängen) stamme vom Namen Sey-chellen. In Wahrheit aber stammt der so schön exotisch klingende Name von einem gleichnamigen Finanzminister Seychellois unter Ludwig XV. im achtzehnten Jahrhundert. Das wäre also analog so, als würde das deutsche Forschungsschiff Polarstern eine bislang unbekannte Insel nach Wolfgang Schäuble benennen. Dem zum Widerspruch steckt die monetäre Infrastruktur der Seychellen in den Kinderschuhen. Viele Bürger besitzen keine Konten und ihre Löhne werden bar oder mit Schecks gezahlt. Nachdem die Seychellen-Rupie frei konvertierbar ist, schleicht eine Inflation durchs Land, die den Arbeitern vieles unerschwinglich macht, was den besser gestellten Fachkräften mit ihren guten Wohnungen und dem modernen Fuhrpark an Privatautos etwas lockerer von der Hand geht. Die Supermärkte sind gut bestückt, der Frischmarkt in Viktoria ein Erlebnis für sich: Neben Obst und Gemüse wird Fisch gehandelt, große Fische liegen dort, werden gehandelt, sogar weiße Fischreiher fliegen durch die Halle und hoffen auf eine Häppchen, Chili-Schoten, Kokosnüsse, Mangos, zu guten Preisen.

 

Sterne und Inseln

Schauen wir in Mitteleuropa zur Sonne, also südlich, so läuft sie, wie überall, von Ost nach West, also von links nach rechts. Die Seychellen liegen auf der Südhalbkugel der Erde. Im nördlichen Sommerhalbjahr steht die Sonne auf dem nördlichen Wendekreis, also auf der Linie Mexiko, Sahara, Arabien, Taiwan. Dann steht die Sonne auf den Seychellen im Norden. Schaut man in ihre Richtung, läuft sie daher von rechts nach links. Das irritiert. In unserem Winterhalbjahr bewegt sich der Sonnenzenit am südlichen Wendekreis auf der Linie Paraguay, Botswana, Australien. Dann steht die Sonne auf den Seychellen im Süden, läuft also dann von links nach rechts. Das klingt erst recht irritierend, ist es auch. Von Bedeutung ist dieser Umstand dann, wenn man sein Handtuch unter einer Palme so legen will, dass der Schattenwurf der Palme möglichst lange die Liegefläche des Handtuchs abdecken soll. Vertut man sich hier, so könnte man tatsächlich genötigt sein, nach einer halben Stunde schon wieder sich bewegen zu müssen, um die Lage des Handtuchs zu korrigieren. Ungemach und eine Rache der Sonne droht dann, wenn man einschläft, ohne sich mit Lichtschutzfaktor zwanzig eingerieben zu haben.

Wie dem auch sei, wir haben den komplizierten und von uns beobachteten Lauf der Sonne mit einem Schüttelreim resümiert:

Die Sonne fällt ins Wasser nieder,

und morgen kommt sie nasser wieder.

Das sagt alles. Nicht ganz herausgefunden haben wir, ob auch der Mond auf der Südhalbkugel anders zu deuten ist. Auf der Nordhalbkugel zeigt zunehmender Mond die volle Rundung rechts, abnehmender Mond links. Da wir auf den Seychellen Vollmond hatten, und Tage später am abnehmenden Mond die volle Rundung rechts sahen, lag diese Vermutung für uns nahe.

Zu den seltenen und schönsten poetischen Momenten, die ich kenne, zählt der Augenblick, wenn ich nachts am Sternenhimmel das Kreuz des Südens erblicke. Es ist in Europa nie zu sehen. Wie ein Geheimnis leuchtet es einen an, der astrale Leuchtturm einer fremden Hemisphäre. Dabei ist es nicht eigentlich ein Kreuz, mehr ein nach unten gezogenes stehendes Rechteck aus vier Eckleuchten, eher wie ein Papierdrachen, den ein geheimnisvoller Sternenwind am Firmament hält.

Die Seychellen seien, so liest man, eines der letzten Paradiese. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Woran glauben die Menschen im Paradies? Müssen sie überhaupt etwas glauben, so wie man etwas erhofft? Sie haben ja alles. Die überwiegende Mehrheit der Seychelloiser ist – entgegen der zuletzt englischen Kolonialherren – streng katholisch.  Auf La Digue steht eine der für mich schönsten Kirchen in einem klassizistischen Kolonial-Stil, auf Praslin und Mahé große, gut erhaltene, liebevoll gestaltete, ja einladende breite, offene, windfrische helle Kirchenbauten, in denen ohne viel Aufsehen geglaubt wird, ohne Barock, ohne Protz. In jeder Kirche sah ich den Kreuzweg Jesu, die via crucis in seinen vierzehn Stationen, oft in Holzreliefs. An vielen Küstenabschnitten stehen auf Felsvorsprüngen am Wasser Kreuze, einige besagen, dass dort durch den Tsunami 2004 Opfer zu beklagen waren. Hochzeiten finden statt, Beerdigungen, Taufen, es wird dabei gesungen. Die Männer heiraten nicht gerne, allein erziehende Frauen mit Kindern diverser Väter sind völlig normal auf den Seychellen. Nun, es gibt wohl zwei Formen der Toleranz: einmal jene unter den Menschen, und ferner die zwischen Gott und seinen Geschöpfen. Beide Arten der Toleranz sind Maßstäbe des Glaub-Würdigen.

Unser Wolkenfilm ist inzwischen weiter gelaufen. Zuletzt waren wir der Astronaut, der Länder in den Wolkenformen zu erkennen glaubt. Inseln lassen sich in den Wolken leichter erkennen als Konturen kontinentaler Länder. Von einigen Inseln der Seychellen konnten wir das vor unserem Besuch nicht behaupten. Heute wissen wir: liegen wir irgendwo auf der Welt auf dem Rasen und blicken in die Wolken, so erkennen wir euch: La Digue, Praslin, Mahé.