Schottland

„Second Sights“. Schottische Impressionen                                            

Von unserer Reise nach Schottland sollen wir erzählen? Aber ihr wisst ja schon so vieles von dort. Jede Reise sei anders und biete immer neue Einsichten? Na gut, erzählen wir also von Schottland.

Schottland, besonders der Westen, ist voller Berge. Für weitere wäre durchaus kein Platz mehr, so dicht stehen sie beieinander. Als auf der Erde die Plätze für die Berge vergeben wurden, meldeten sich viele von ihnen für Schottland an, und sie standen Schlange, geduldig wie Berge so sind.  Ausgewählt wurden sie nach Schönheit, nicht jeder wurde genommen. Nicht zu hoch durften sie sein, nicht zu bewaldet, mit zierlichen Tälern, durchaus felsigen Spitzen, manche brachten Wasserfälle mit, manche Schluchten, Felsnadeln, Hochmoore, versteckte Täler, bequeme und gleich eingerichtete Wanderpfade, und Höhlen, in denen sich verfolgte Schotten verstecken können. Sie fanden schließlich alle ihren Platz, der dicke kantige Ben Nevis setzte sich gleich in die Nähe des Loch Ness hin, und alle hocken sie breit da, ein jeder nach seinem Charakter. Einige Persönlichkeiten lernten wir kennen, denn in der Regel mögen sie es, wenn Menschen oder Schafe oder beide auf ihnen herumkribbeln. Dann kichern sie und blasen aus unsichtbaren Nüstern Nebel aus, mit dem sie ihre nackten Spitzen schamhaft umkleiden. Einige von ihnen tragen den Stolz ihrer Bewohner, rümpfen die Nase oder stehen auf, so dass sie plötzlich sehr steil werden. Einige liegen platt und lassen ihre Rücken von den Touristen massieren. Im Westen gibt es Berge, die sich zu weit ans Meer herangewagt haben, wo der hungrige Atlantik seine Walfischzähne hineinschlug und in Schottland wie in eine Butterstulle hineinbiss und inselartige Krümel und hohe, steile Klippen zurückließ, an denen 1588 viele Schiffe der spanischen Armada scheiterten.

 

Berge und Leuchttürme

Wir landeten in Glasgow, übernahmen ein Mietauto, das sogleich Anlass zu einer Reklamation gab: Das Steuerrad war auf der falschen Seite. Dieser Fall führte zu einer weitgehenden Relativismusdebatte, bei der herauskam, dass – wenn alles falschherum sei – alles wieder richtig werde. Ich müsse also die Dinge nur komplett spiegelverkehrt nehmen, nur links auf der Straße fahren, statt rechts, dann ginge es schon. Und in der Tat: wenn alle sich daran halten, links zu fahren, kam man genauso gut aneinander vorbei, wie in Kontinentaleuropa eben rechts. Die Schotten erwiesen uns ihre Höflichkeit darin, ebenfalls alle links zu fahren, und da ging es sofort. Doch in einsameren Gegenden, wo wir lernten, dass unser Wort „Gegend“ hier eher bedeutet, dass einem niemand „begegnet“, wurden die Straßen sehr schmal, nämlich einspurig. In solchen Gegenden wurde der, der einem begegnet, in der Tat zu einem „Gegner“, wobei sich die mit Straßenbreiten geizenden Schotten sich folgendes ausgedacht haben: statt breiter Straßen, auf denen man links gut aneinander vorbeihuschen kann, bauten sie „passing places“, beulenartige Buchten alle rund 300 yards mal auf der linken, mal auf der rechten Seite, in denen man zu warten hatte, um den Verkehr vorbei zu lassen. Jetzt kommt das besondere: derjenige, der zuerst an der Wartebucht anlangt, muss warten, wer zuletzt kommt, mahlt also zuerst, und grüßt nett mit einem Armwinken oder mit lässigem Fingerzeig am Steuerrad. Wir haben noch nie in unserem Leben so oft im Auto gegrüßt, und wurden auch noch nie so oft gegrüßt. Mit jedem Tag wurde unser Gruß lässiger: zuerst mit dem ganzen Arm, dann mit der Hand, dann mit den Fingern, zuletzt nur noch mit dem Zeigefinger. Schotten und Touristen lassen sich in ihren Autos daran erkennen, wie lässig sie auf einspurigen Wegen grüßen, wenn sie anderen die Vorfahrt gewähren.

English speaking people sind kein Garant dafür, Schotten zu sein. Ganz im Gegenteil dürften die meisten Wagen im Westen Leihwagen sein, die – neben den Deutschen – viele Nichteuropäer mit familiären Wurzeln benutzten, um das Land ihrer indirekten Herkunft zu besuchen: Kanadier, Australier wohl zuallererst. Wer mit Planwagen und einer Pferdestärke in der Neuen Welt loszog, vor hundert und mehr Jahren, dessen Nachfahren kommen in Ledersitzen, gezogen von hunderten Pferdestärken oder im Wohnmobil zurück. Diesen Effekt haben wir im guten alten Irland, an das Schottland uns in einiger Hinsicht erinnerte, damals ebenfalls beobachtet. Zur Verwandtschaft beider Länder ließe sich aus unserer Sicht viel berichten, augenfällig ist die Ähnlichkeit der zweisprachigen Straßenschilder. Die gälische Sprache, offenbar für die Touristen gepflegt, dient nicht um sich mit ihr verständlich, sondern interessant zu machen. Die Sprache gehört zur Mystik der Landschaft, insofern, dass sie für uns schier unaussprechlich ist. Wer sie von Einheimischen gesprochen hört, versteht kein Wort. Es soll 4 bis 10 Menschen auf der Insel Skye geben, die diese enigmatische Sprache im Alltag sprechen. Hier wie in einigen Gegenden Irlands, wo das Gälische sogar Amtssprache ist, wird um dieser Menschen willen die komplette Schilderei zweisprachig. Was tut oder tat man nicht alles gegen England.

Nicht viel bemerkt haben wir von der Volksabstimmung, die am 18. September in Schottland durchgeführt wird. In ihr soll geklärt werden, ob Schottland weiterhin zum Vereinigten Königreich gehören oder staatliche Eigenständigkeit erlangen soll. Hier und da sahen wir einige „Yes“ und „No“-Schilder, und in Gesprächen war man der Meinung, diesmal könne es knapp ausgehen, aber niemand der von uns Befragten war wirklich für eine Abspaltung. Seltsam: Mit europäischen Geldern, so die Tafeln an den Straßenrändern, wurden umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen in die Felsen der Westküste gesprengt, planiert, bitumisiert, und die Gegend wurde geteert und gefedert. Was England, so scheint’s, netto für Europa eingezahlt hat, holen sich die Schotten als „arme“ Randregion zurück. Die den Antrag überbrachten, so kann man es sich vorstellen, ließen ihre Jaguars und Audis in Edinburgh und Glasgow zurück, kamen zu Fuß nach Brüssel. Seitdem war klar: Man hält es als eigenständiger Schotte nicht mit den Mächtigen, sondern mit denen, die man an der Nase herumführen kann. Wenn sich Schottland von Großbritannien trennt, so müsste es einen neuen Antrag auf Beitritt in die EU stellen: als armer Randstaat. Der Geist der Schotten besteht nicht darin, eigenes Geld zu sparen, sondern fremdes zu ergattern.

Wie früher in den Highlands die Clans schottische Straßen unsicher machten, so heute die Mücken schöne Abende auf Terrassen und Sitzbänken. Allein es sind keine Mücken: nein, kleiner und fieser sind es kaum sichtbare Harry-Potter-Geister, midges, denen man nur mit dem Zauberstab chemischer Keulen und Mückentötolin beikommen kann. Ähnliches gilt für Zecken, die sofort zur Stelle sind, wo man sich in‘s Gebüsch hocken muss. Dieses schottische Ungeziefer gleicht einer Prüfung, die man bestehen muss, ansonsten bleibt einem das Studium des Landes leider verschlossen. Pinkelt man übrigens in einen Schwarm von Mücken hinein, so werden sie ganz wild. Ist lustig anzuschauen. Quod erat demonstrandum.

Unser erstes Haus lag inmitten eines Wildgeheges, einer Hirschzucht, an der Küste der Ardnamurchan-Halbinsel am Loch Sunart. Die Hirsche liefen recht frei herum, wurden mit den Tagen uns gegenüber immer zutraulicher, bis schließlich die großen Sechs-Ender morgens bei uns in‘s Fenster blickten. Das Gehege war Teil eines großen Landbesitzes, in dessen Mitte ein großes, schlossartige Dimensionen einnehmendes Landhaus stand. Dessen Besitzer gefiel sich darin, alte Autos der zwanziger und dreißiger Jahre zu sammeln und uns beim Vorbeifahren nicht zu grüßen. Das taten nur seine Bediensteten. In unserem wundernetten Häuschen mit bester Küchen- und Kaminausstattung befand sich solch ein seltsamer, hochkant stehender, schmaler Metallschrank, der mit gutem Schloss abschließbar war, im Wohnzimmer lag ein Gästebuch mit begeisterten Danksagungen über die gute Unterkunft, nette Betreuung, schöner Umgebung und Hilfe bei der – Hirschjagd! Wir schreckten zurück: unsere gutmütigen, zutraulichen lieben Hirsche da draußen, alle zugleich furchtsam wie schmackhaft, waren Kugelfutter touristischer Hirschjagden mit anschließender Verspeisung im Herrensitz?? Wir sahen die Hirsche da draußen an, nun mit anderen Augen als bisher, traurig, wie sie da standen und gutgläubig in falscher Sicherheit wiegend das Gras zupfend und kauend, perläugig wie Seehunde, kuschelig wie Plüschtiere. Die meisten Gästebucheinträge stammten von Dänen, Norwegern und Schweden. Denen, so schimpften wir, sind wohl die Elche ausgegangen, und nun bestehen ihre Schießkünste hier den Hirschtest! Und mit einem schottischen „Second Sight“ – dazu siehe unten – sahen wir die unmittelbare Zukunft dieser Hirsche voraus.

Auf dieser Halbinsel befand sich „Ardnamurchan Lighthouse“, einer jener zahlreichen Leuchttürme, die die schottische Küste und die Äußeren Hebriden an sowohl verkehrswichtigen wie auch für Touristen schwer zugänglichen Stellen markieren. Eine Zierde für jeden Sucher, und jedem Schiff in dieser gefahrvollen Inselwelt eine nötige Hilfe! Wenn diese vielen Leuchtfeuer zur Zeit der Spanischen Armada bereits existiert hätten, so hätten die Briten sie sicher alle ausgeknipst, sonst wäre die Armada nicht an den Felsen zerbrochen! Aber sie stammen allesamt aus späterer Zeit, wie wir erfuhren, viele von ihnen wurden von Architekten der Familie Stevenson erbaut, dieser mit seinen 152 Stufen am westlichsten Festlandspunkt von Alan Stevenson, dem Großvater von Robert Louis, dem Autor ach so vieler abenteuerlicher Erzählungen wie der Schatzinsel, oder Dr. Jeckyll und Mr. Hyde. Als Knabe las ich diesen Roman um Jim Hawkins und den Piraten um Long John Silver mehrere Male, als Erwachsener die Novelle um die gruselige Verwandlung des Selbstforschers, der mir als Student den halben Sigmund Freud vorwegzunehmen schien. Auch Stevenson besaß offenbar, als Schotte, den „Second Sight“. 1986 hat übrigens die Queen diesen wunderhübschen Leuchtturm besucht und laut beigefügtem Museum die 152 Stufen nach oben ohne Pause genommen.

Der Ruine von Kilchurn-Castle, ursprünglich erbaut 1450, am Loch Awe, näherten wir uns auf einem Trampelpfad ehrfürchtig, plötzlich hörten wir einen Dudelsack pfeifen, sauber, schön, ergreifend. Erst dachten wir, dort werde mit einer Musikanlage zur Untermalung aufgespielt, aber wie erstaunten wir, im Innenhof der malerischen Ruine einen echten Dudelsackspieler in vollem Kilt und Montur zu treffen, der, gefilmt von seiner Frau, ein gar feines Konzert gab, ein Lied nach dem andern, und als wir ins Gespräch kamen, stellte sich heraus, dass das Paar, sauber Deutsch sprechend, aus dem Rheinland stammt und hier der Marotte des Mannes nachging, in schottischen Ruinen Dudelsack zu spielen. Die Perfektion in Musik und Kleidung war verblüffend, was es doch für Obsessionen gibt!

In mancher Hinsicht gleicht Schottland der Südinsel Neuseelands. Dies nicht allein, weil gerade dorthin viele hungrige und vertriebene Schotten umsiedelten – die hübsche Stadt Dunedin, südlichste Universitätsstadt der Erde, zeugt noch heute davon – mehr noch erscheint wie jene entfernte Insel auch Schottland wie ein Zentrum der Outdoor-Abenteurer. Am Fuß des höchsten Berges der Britischen Insel, dem Ben Nevis (rund 1300 Meter), sammeln sie sich an in Fort Williams, von wo aus sie loswandern, klettern, oder – einmal im Jahr sind hier die Meisterschaften – im Downhill-Fahren. Was das ist? Mit dem Mountainbike über Stock und Stein und Geröll möglichst schnell und möglichst steil bergab scheppern, gut knie- und ellbogengepolstert und möglichst ohne Knochenbrüche unten ankommen, das ist das Ziel.

Bergwandern in Schottland hat manchmal etwas Seltsames. Es soll Wochen geben, in denen sind die Bergspitzen vor lauter Wolken und Nebel durchaus nicht zu sehen. Und wer nur glaubt, was er sieht, könnte in nasseren Monaten bezweifeln, dass es sie überhaupt gibt. Ein Wanderer läuft im Tal entlang und irgendwie, merkt er, geht es bergan, und immer weiter bergan, bis er in den Wolken verschwindet. Der Wanderer ist dann auch nicht mehr zu sehen. Rational betrachtet, macht dies die Mystik der Bergwelt aus: Wir müssen glauben, dass die Götter da sind. Beim Matterhorn zum Beispiel ist es uns bis jetzt noch nicht geglückt, zur Gewissheit zu gelangen, dass es diesen Gott von Berg überhaupt gibt.

Mithilfe von derlei Naturabenteuern ist am ehesten nachzuempfinden, wie sich Natur und Selbstbehauptung verbinden, in einem Erlebnisraum, der sich in den Seelen der Freiheitskämpfer wiederfindet, wie Rob Roy, Robert the Bruce, Robert Burns, oder ihr Homer, Sir Walter Scott, oder ihr fotogener Nachfahr, Sean „The Rock“ Connery. Letzterer übrigens gilt als der berühmteste Befürworter und Förderer der Eigenstaatlichkeit Schottlands. Harry Potters Erfinderin jedoch, Joanne K. Rowling, soll mehrere Millionen Pfund Sterling für die Initiative zum Verbleib im Königtum spendiert haben. Ein Cheers darauf mit einem Burns-Beer, ein süffiges Ale übrigens, dessen Etikett verspricht: „See: Chestnut Brown; Smell: Malt, Toffee, Roastet; Taste: Smooth, Rich, Biscuity.“ Und das ohne Reinheitsgebot für Bier!

Nun ein Geheimtip: Auf der Insel Mull, im Fischerhafen Tobermory, gibt es ein Fischrestaurant, das von außen, weiß angetüncht, eher aussieht wie eine Tonnenhalle, unten ist ein Ticketbüro für die Fähren, aber oben befindet es sich: ausgezeichnet, preiswert, nett, frisch, man muss nur einen Tisch vorbestellen, und es geht im Zwei-Stunden-Takt. Es tarnt sich mit dem für ein Restaurant seltsamen Namen „Cafe Fish“.

 

Auf der Insel des Nebels

In der zweiten Woche wechselten wir in ein Haus auf der Insel Skye. Auf der Fahrt merkten wir: Vor uns waren schon andere Touristen in Schottland gewesen, das erkennt man an den zahlreichen Hütten, Dörfern, Hotels, Castles und Nobelherbergen, an den guten aber schmalen Straßen, an der meterlangen Schottland-Reise-Literatur aus mehreren Jahrhunderten, so dass man sich fragt: Was ist eigentlich so einsam an Schottland, und ist Einsamkeit im Urlaub überhaupt ein unbezweifelbarer Wert? Als erstes fällt auf, dass das Land des „Loch Ness“ ein wahres Netzloch ist, für Handys und irgendwelche Portables, zumindest im dünnbesiedelten Westen. Die Abstände zwischen den Gehöften, Dörfern und einzelnen Häusern sind enorm; kahle Berge, bemooste Berge, hohe, felsige Berge, und jede Menge Löcher, wie hier die Seen, Meereseinkerbungen, Einbuchtungen heißen, gestalten die Landschaft dramatisch.  Einsamkeit anders zu erleben als im Kontext einer Urlaubstimmung, lehrt Schottland auf eigentümliche Weise. Dazu eine Reise in die Vergangenheit.

Die ersten Reiseberichte über Schottland waren noch sehr davon abhängig, was den Reisenden von Einheimischen erzählt wird, und 1773 stellte Samuel Johnson fest, dass „man sich nicht über die Widersprüchlichkeit von Berichten verschiedener Menschen wundern“ dürfe. Früher schon müssen die Schotten ein eigenwilliges Volk gewesen sein, bis in die Neuzeit herrschten hier Clans, die MacDuffs, die MacDonalds, die MacLoads, die MacPhersons, ihrer dreißig und mehr, die sich keiner Krone beugen wollten und einerseits wie Raubritter übereinander herfielen, andererseits wie Freiheitskämpfer ihre Territorien verteidigten und Stoffe für Freiheitsepen gaben. Übrigens Stoff: Jeder Clan hat bis heute ein eigenes Stoffmuster, jener Kilt, der in seinen verschiedenen Kariertheiten je einer Familie zugehörig ist. Man trägt nicht irgendein kariertes Muster, sonders das des Clans.

Wie unterschiedlich Schotten gewesen sein müssen, oder zumindest die Wahrnehmung von ihnen, zeigt der Umstand, dass einerseits der Brite Samuel Johnson 1773 über die schottischen Clans schrieb, als wären sie Jäger und Sammler auf Tauschwirtschaftsniveau: „Geld ist ihnen heutzutage bekannt, und die Möglichkeit des Gewinns wird sie allmählich arbeitsam werden lassen“, und andererseits, dass im gleichen Jahrzehnt der Schotte Adam Smith aus Edinburgh seine Begründung des modernen Kapitalismus unter dem Titel „Der Wohlstand der Nationen“ veröffentlichte, als Ideologe der betuchten bürgerlichen Gesellschaft.

Auf der Insel Mull waren wir in einem Örtchen Calgary, mit dessen Namen Auswanderer die gleichnamige Stadt in Kanada versahen. Der Name bedeutet „Strand an der Wiese“, in der Tat reicht die Weide mit zwanzig Schafen direkt bis an den Strand. Das nebenstehende Foto zeigt schottische Paparazzi auf der Jagd nach sehr speziellen Schwalbenarten. Das schottische Calgary umfasst kaum mehr als zehn Häuser (in der Abbildung hinter den Büschen), das kanadische Calgary ist inzwischen eine Millionenstadt. Auf der Insel Skye war der größte Hafen, Portree (von Port Rex – Königshafen), eine Auswandererstation, und Samuel Johnson räsonierte drei Jahre vor der Amerikanischen Unabhängigkeits-Erklärung über die schottische Auswanderung:

„Ob der Schaden, den das Auswandern anrichtete, sofort erkannt wurde, darf man mit Recht bezweifeln.  Diejenigen, die zuerst weggingen, waren wahrscheinlich solche, auf die man am ehesten verzichten konnte, aber die Berichte, die von den ersten Wagemutigen kamen, ob nun wahr oder unwahr, veranlassten viele, ihnen zu folgen, und ganze Nachbarschaften bildeten Auswanderungsgruppen, so dass das Fortgehen aus der Heimat kein Exil bedeutete. Wer so in Gesellschaft weggeht, nimmt alles mit sich fort, was das Leben angenehm macht. Er siedelt sich in einem besseren Klima an, umgeben von Verwandten und Freunden. Sie nehmen ihre Sprache mit, ihre Ansichten, ihre Lieder und althergebrachten Lustbarkeiten, sie verändern nichts als ihren Wohnort, und den Nutzen aus dieser Veränderung erkennen sie sehr wohl.“

Dies sei den heutigen Schottlandreisenden eine Lehre: Die krassen Unterschiede zwischen königstreuen Schotten im Süden, mit höherem Zivilisationsniveau, und den ursprünglich wilden, stolzen, trotzigen Clans auf den Highlands and Islands wiederholt sich in der dichten Besiedelung im Südosten und der puren, trostlosen „Einsamkeit“ im Nordwesten. Denn die Kargheit und Leere, die abgeholzten Wälder, die ausgetriebenen Städte und Dörfer, die verheerende Hungersnot 1840, ein gegenseitiges Abschlachten und Verfolgen bis in die Zeiten Robert Burns oder Sir Walter Scotts hinein, das sind die Gründe für die Kargheit der Landschaft, die so viele Touristen hier umgibt und aufsuchen lässt. Mühsam hat man erreicht, dass die Insel Skye wieder 10.000 Einwohner hat, während das Mehrfache davon in den Sommermonaten an Touristen dort herumfährt. Auf dem sagenumwobenen Castle Dunvegan der MacLoads sprechen alle Visitorguides ein perfektes Deutsch, die Schlossführung, die wir sahen, war in Deutsch, ja mit einigem Fug kann die Insel Skye als das schottische Mallorca kontinentaler Wohnmobillenker gehobenen Alters gelten. Die Besichtigungsgruppe in der Whisky-Destillerie von Tulisker bestand aus 16 Personen: 4 Tschechen, 3 Holländern, 2 Deutschen (uns), 7 Russen, und diese Besichtigungen werden dort stündlich tagein- tagaus durchgeschleust. Samuel Johnson schreibt über den Ort Tulisker 1773:

„Tulisker ist von allen Orten, die ich gesehen habe, derjenige, aus dem Frohsinn und Heiterkeit vollkommen verbannt scheinen, und wo der Eremit in Meditation alt werden kann, ohne dabei gestört oder unterbrochen zu werden.“ Ohne die Touristen wären die letzten Highlander heute noch Eremiten, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Oh, by the way: Während der Besichtigungstour war das Fotografieren strengstens verboten! Jede Destillerie hat ihre geheime Rezeptur für die Single Malts. Dennoch ist es uns gelungen, ein Geheimlabor zu fotografieren. Zwei Gefäße sind zu sehen, in die durch Filter geheimnisvolle Flüssigkeiten tropften.

Nebenbei haben wir auch das Rätsel um das Ungeheuer von Loch Ness gelöst. Es verhält sich mit ihm, das sei nun kundgetan, ähnlich wie mit einem anderen Tierwunder in einem Gewässer, nämlich jenem Hahn im Brandenburger Stechlin-See, der, Theodor Fontane zufolge, immer dann krähend in der Mitte des Sees aus dem Wasser steigt, wenn auf der Welt ein Unglück dräut. Uns Deutschen sagt das sofort etwas, wenn wir hören, dass das Ungeheuer von Loch Ness zum ersten Mal 1933 gesichtet sein wollte. Der Bezug auf dieses schlimme Datum deutscher Geschichte erhellt auch aus der Meinung, die hier in Schottland vorkommt, bei dem Ungeheuer handele es sich gar um ein deutsches Uboot. Nein! Stimmt nicht. Wir haben es gesehen! Und fotografiert! Es blickte eines Morgens neugierig in unser Haus. Das Tier flatterte davon. Es war vom Stamme der Alektryos, ganz wie er auch aus dem Stechlin-See krähte. Es war so niedlich, dass es unmöglich ein Unglück ankündigte, allenfalls das schlechte Abschneiden der englischen Fußballnationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft, deren Spiele wir dort abends gesehen haben. Auch dieses Ungeheuer hatte also die Gabe des „Second Sight“ (dazu gleich).

Dass hühnerartige Tiere in Prophezeiung kommenden Unheils aus Löchern steigen, ob in Brandenburg oder in Schottland, überzeugt um so mehr, da übrigens Theodor Fontane die Anregung, über seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg zu schreiben, in Schottland erhielt:

„Es war in der schottischen Grafschaft Kinross, deren höchster Punkt der Leven-See ist. Mitten im See liegt eine Insel, hinter Eschen und Schwarztannen halb versteckt, erhebt sich ein altes Douglas-Schloss, das in Lied und Sage vielgenannte Lochleven Castle.“ Dieser See überblendete sich dem Reisenden mit dem Rheinsberger See nördlich von Berlin, an dessen Ufer sich der Schottlandfahrer Fontane wie in einer Vision versetzt fühlte. „So schön dies Bild war, das der Leven-See mit seiner Insel und seinem Douglas-Schloss vor dir entrollte, war jener Tag minder schön, als du im Flachboot über den Rheinsberger See fuhrst…? Und ich antwortete: nein.“

Auf dem Rückweg unserer Reise überquerten wir bei Dundee den River Tay auf einer riesigen Brücke, und fühlten uns wieder an Fontane erinnert. Seine Ballade über die Eisenbahnbrücke erzählt von ihrem Einsturz kurz nach der Errichtung 1879. „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand“, heißt es da etwas miefig, da ja nicht alles von Menschenhand, sondern nur das falsch Gebaute oder falsch angewendete Wissen zusammenstürzt, so würde Samuel Johnson urteilen, und die drei Hexen, die Fontane dem Sakespeare‘schen Macbeth entnahm, rüttelten keineswegs am Gestänge der Tay-Brücken, als wir sie befuhren. Diese kleine Sentimentalität Fontanes mag damit zusammen hängen, dass er die Ballade erst lange nach seiner Schottland-Reise (1866) schrieb, in verklärter Erinnerung an die wilde Landschaft.

Die schottische Poesie! Auf die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert hatte sie großen Einfluss, ähnlich wie die schottische Philosophie auf das 18. Jahrhundert.  Wie zart liest sich Robert Burns‘ „To A Mouse“ von 1785, das Freiligrath übersetzt hat (und bei Ian Anderson von Jethro Tull eine Rockballade wurde). Ein Bauer stört eine Maus beim Pflügen, und er singt:

„Klein, furchtsam Tierchen! Welch ein Schrecken

Erfüllt dein Brüstchen, so durch Hecken

Doch bist du glücklich gegen mich!

Die Gegenwart nur kümmert dich:

Doch, oh! Des Pfads, wenn rückwärts ich mein Auge schlage!

Und vor mir, türmt auch Dunkel sich, ahn ich und zage!“

Wir verbrachten einen Tag in St. Andrews. Die Stadt mit ihrer Eliteuniversität und Gebäuden aus dem 17. Jahrhundert reicht genau bis zur Meereskante, als wenn Marburg oder Tübingen direkt an der Nordsee lägen. Hier haben der derzeitige Thronfolger, Prinz William, und seine Kate sich kennen gelernt, von hier aus wurde das Golf-Spiel weltberühmt, hier wohnen die philosophischen Disziplinen „Moral Philosophy“ und „Logic and Metaphysics“ buchstäblich Tür an Tür, so dass sich mir mit einem Blitz der Evidenz die ganze Philosophie wie eine Siedlung vorkam, in der Streit und Harmonie das gleiche bedeuten wie unter Nachbarn: als Streit in Gemeinschaft. Die Stadt erschien uns reich aber alt, aufgeräumt aber jung, traditionsbewusst aber gastfreundlich. John Knox, der große Reformator und – in seinem Exil in der Schweiz Anhänger von Calvin geworden – hatte hier  studiert. Zu seinen akademischen Lehrern gehörte George Wishart, der 1546 öffentlich für seine nichtkatholische Lehre verbrannt wurde, jenes Justizverbrechen, das seine Freunde veranlasste, ihrerseits den Bischof zu hängen, um sodann die erste protestantische Kongregation Schottlands zu gründen. Der Punkt, auf dem Wishart verbrannt wurde, ist heute noch im Straßenteer mit seinen Initialen versehen.

Was hielt unser wackerer Aufklärer Samuel Johnson 1773 von St. Andrews? Wenig. „Am Morgen standen wir auf, um die Stadt zu besichtigen, von der nur die Geschichte auf einstige Blüte weist, wir sahen die Trümmer einer ehemaligen Pracht. (…) Und worin liegt das Vergnügen, solche traurigen Denkmäler zu erhalten? Bis heute sind sie so sehr vernachlässigt worden, dass ein jeder, der meinte, sie brauchen zu können, die Steine fortschleppte. (…) Die Kathedrale wurde, wie allgemein bekannt, in Tumult und Gewalt von Knox‘ Reformation zerstört.“

Die Nacht verbrachten wir zehn Meilen südlich im Anwesen von Sir Peter und Lady Erskine, Kingsbarns. Die riesige ummauerte Parkanlage folgte dem modernen Ideal alternativer Gartenverwilderung mit Eventmöglichkeiten für Familien, Kinder und Kräuter-nixen. Der Naturzustand entsprach englischer Gelassenheit, nicht ungepflegt, nicht penibel beschnitten. Wir bezogen das Turmzimmer. Was wir im Deutschen mit dem Wort „Plüschigkeit“ benennen, verdient diese Bezeichnung, wenn Kleingartengestaltung und Wohnzimmerinterieurs ebenso bunt in den Farben, verspielt in den Formen und daunenweich in den Betten und Kissen eintauchen. Ein Hauch von Biedermeier darf dabei sein, in Großbritannien freilich ist’s der viktorianische Stil. So war dieses Anwesen fast noch im Originalzustand. Dass die Gebäude sehr jung sind, nämlich aus dem späten 19. Jahrhundert, verdankt sich dem Umstand, dass das Anwesen damals abbrandte, und zwar nach einem Gelage der Bediensteten bei Abwesenheit der Herrschaft. Seitdem ist dort rauchen verboten. Man versinkt in diesen Zimmern wie in Wolken aus Wohnung, wohl in der Absicht, darin von wolkengleicher Wonne zu träumen. Unsere preußisch-harten Matrazen zuhause, so will uns scheinen, gewähren ebenso süße Träume wie dieser Wolkenplüsch, oder umgekehrt: je weicher man liegt, desto intensiver träumt man vom vergangenen Empire. Es ist diese heimelige Mentalität, die für die schottischen Clanchefs noch buchstäblich, für die gesamte britische Gesellschaft symbolisch die Sicherheit guten Schlafes garantiert. Der Weg der Reformation in die Bürgerlichkeit markiert sich kaum besser als im historischen Wandel des Symbols von der Burg. Ließ noch Luther singen: Eine feste Burg ist unser Gott, ein Spruch, der an der Schlosskirche zu Wittenberg zu lesen ist, bezieht der Brite seine Geborgenheit im Spruch: My home is my Castle. Es ist eine Vergöttlichung des Privaten, eine Intimisierung der bürgerlichen Freiheit und theologisch gesehen die Entwicklung eines globalen Gottes zum Hausgott mit Gartenzaun. Das nämlich ist Protestantismus: die inselgleiche Seligkeit des meinigen, zu der der Erlöser einlädt wie der Gläubige zu sich nach Hause.

Gefrühstückt wurde im Speisesaal an einem großen Tisch, an dem wir Platz bekamen mit Einladung zu allgemeinem Breakfast. Noch müde und ohne Kaffee-Schub zu unerwarteter englischer Konversation gedrängt, mussten wir ein paar Holper überstehen, doch dann ging es. Allein vier Kanadier aus Toronto saßen am Tisch, ein Paar war aus Schottland  daselbst. Wir wurden nach Angela Merkel gefragt, die dort hohes Ansehen zu genießen scheint, offensichtlich höheres als James Cameron, aber das war wohl mehr eine höfliche Geste uns gegenüber. Nachdem klar war, dass unser Lebensweg, zu dem wir befragt wurden, veritabler zu sein schien als  unsere Fähigkeit, in flüssigem Englisch zu konversieren, wurden wir mit Handschlag und Herzlichkeit verabschiedet, als wir nach Edinburgh weiterfuhren, „eine Stadt, die zu bekannt ist, als dass sie eine Be-schreibung bedürfte“ (Samuel Johnson).

Diese Stadt umschloss unser Herz wie eine feste Burg, die oben auf dem Hügel der Altstadt prangte. Auf der High Street die schottischen Geistesgrößen wie es ihnen geziemt: Walter Scott zu Füßen der Burg in einem riesigen, über 287 Stufen hochführenden Monument, voller Fialettchen und neugotischer Zahnstochertürmchen. David Hume, eine sitzende Statue im Stile eines römischen Rhetors, Adam Smith mit strengem Blick auf das Markttreiben der Straße, allerdings sitzt immer eine respektlose Taube auf seinem Kopf, John Knox, mit einem ganzen Haus, das sein Wohnhaus gewesen sein könnte, und, wie es sich gehört, Robert Burns als Namensgeber eines Pubs mit angeblich über 300 verschiedenen Whisky-Sorten. Wegen der stolzen Repräsentation ihrer Errungenschaften suchten wir nach einer Statue des Schafes Dolly, das in Roslin, zehn Kilometer südlich von Edinburgh, als erstes Klonschaf 1996 künstlich erzeugt wurde, aber wir fanden keines, dafür das Elephant-House, einem mittelmäßigen Café, in dem Frau Rowland ihre ersten Ideen zum Harry-Potter-Zyklus erfunden hatte.

Absolut lohnenswert ist ein Besuch der Gemäldegalerie. Neben zahlreichen Bild-Dokumenten zur schottischen Geschichte finden sich dort, weiß Gott wie die dort hingelangten, Eine Allegorie der Melancholie von Lucas Cranach, 1528, und Rafaels Madonna del Passeggio, 1518, und El Grecos Christus als Erlöser, 1600. Allein der Rafael: Diese Zartheit zwischen Jesus und Johannes übertrifft in ihrer Einfachheit alles, was Freundschaft und zarte Hinneigung in einer einzigen Geste zum Ausdruck bringen kann. Man achte auf die Münder, die sich nicht berühren, einander zuflüstern, und dennoch ganz eins sind. Man sieht dieses eine Bild, geht wieder hinaus, sieht andere und denkt über die anderen Bilder: alles Tand, um eine Lieblingswendung Fontanes aufzugreifen.

 

Das „Zweite Gesicht“

Zum Schluss noch etwas Mystik. Samuel Johnsen, unser wackerer englische Aufklärer, der über die Schotten 1773 schreibt, muss sich in Schottland wie unter Wilden gefühlt haben:

„Solcherart ist das System der insularen Untertänigkeit, die, weil sie wenig Abwechslung besitzt, weder im Ansehen entzücken kann, noch den Geist in langer Betrachtung fesselt. Die Einwohner waren für lange Zeit vielleicht nicht unglücklich, aber ihre Zufriedenheit war eine trübe Mischung aus Stolz und Unwissenheit, Gleichgültigkeit gegenüber Annehmlichkeiten, die sie nicht kannten, blinder Verehrung ihrer Führer und einer starken Überzeugung von ihrer eigenen Wichtigkeit.“ – „Jede Provokation wurde mit Blut gerächt und keiner, der sich in eine zahlreiche Gesellschaft wagte, konnte sicher sein, ohne Wunden wieder herauszukommen.“

So spricht der kultivierte Ethnograph über ein minderes Volk, und mit solcherlei Stil- und Denkhaltungen hat die englische Aufklärung auf die wilden Schotten herabgeblickt. Besondere Aufmerksamkeit widmet Johnson dem Aberglauben der Schotten, der sich heute noch in Landschaftsmystik und Seeungeheuern weiter erzählt, und besonders ausführlich schreibt Johnson über das „Zweite Gesicht“ (Second Sight).

„Das ‚Zweite Gesicht‘ ist ein Eindruck, den entweder der Geist auf das Auge oder das Auge auf den Geist erzeugt, durch den entfernte oder zukünftige Dinge sichtbar werden und sich darstellen, als wären sie gegenwärtig. Ein Mann, der sich weit von zu Hause auf einer Reise befindet, stürzt vom Pferd, ein anderer, der vielleicht gerade nahe beim Haus arbeitet, sieht ihn blutend am Boden liegen…“

Johnson zitiert mit spitzen Fingern Beispiele telepathischer Fähigkeiten der Schotten und nimmt sie sachkundig als Täuschung auseinander. „Es ist nicht leicht, mit diesen Sehern zu sprechen. Einer lebt auf Skye, mit dem wir uns gern unterhalten hätten, er war aber sehr plump und unwissend und verstand kein Englisch.“

An einer Stelle seines Reiseberichts erwähnt Johnson den Mann, der als erster Autor schriftliche Beschreibungen von Land und Leuten veröffentlicht hat, Martin Martin. Er war ein gebildeter Bürger der Insel Skye, hat 1681 in Edinburgh und 1710 an der Universität Leiden studiert. Johnson beschreibt ihn als abergläubischen Provinzler, der an großen Zeremonien seine kindliche Freude habe:

„Doch wusste er wahrscheinlich nicht genug von der Welt, als dass er befähigt gewesen wäre, ein Urteil darüber  abzugeben. Was er versäumt hat, ist nun nicht mehr zu leisten (also eine nüchterne Landesbeschreibung). Für Nationen, die kaum  eine Verwendung für Buchstaben haben, ist das einmal aus den Augen Verschwundene für immer verloren. Sie denken nur wenig, und von den wenigen Gedanken wird kein einziger auf die Vergangenheit verschwendet, an der sie weder aus Furcht noch aus Hoffnung interessiert sind. Festgelegte Bräuche und eingeführte Spiele sind ihre einzigen Urkunden. Aus diesem Grunde ist ein Zeitalter der Unwissenheit auch ein Zeitalter der Zeremonie.“

Daraufhin habe ich in Edinburgh das – leider nicht ins Deutsche übersetzte – Werk jenes Martin Martin (seltsame Identität von Vor- und Nachnamen) von 1695 eingesehen und dort die Quellen zu Johnsons Auseinandersetzung mit dem Phänomen des „Zweiten Gesichts“ gefunden. In einem umfangreichen Kapitel beschreibt Martin dieses telepathische Phänomen. Selbst Johnsons Hinweis, das Wort vom „Second Sight“ heiße im Gälischen „Taish“, findet sich bereits bei Martin. Sehr schön wird die Physiognomie eines Menschen, der das „Zweite Gesicht“ hat, von Martin gezeichnet, so dass man erkennt, ob ein Mensch sich in diesem entrückten Zustand befindet:

„At the sight of a vision, the eyelids of the person are erected, and the eyes continue staring until the object vanishes. This is obvious to others who are by, when the persons happen to see a vision, and occurred more than once of my own observation, and to others that were with me.

There is one in Skye, of whom his acquaintance observed, that when he see a vision, the inner part of the eyelids turn so far upwards, that after the object disappears, he must draw them down with his fingers, and sometimes employs others to draw them down, which he finds to be much the easier way.”

Übersetzung: „Während der Vision sind die Augenlider aufgerollt, und die Augen starren fest bis das Objekt verschwindet. Dies ist offenkundig für andere, die dabei sind, wenn die Person plötzlich eine Vision hat, und das geschah mehr als ein Mal durch meine eigene Beobachtung, und die anderer, die dabei waren.

Da gibt es einen auf Skye, bei dem ein ihm Bekannter beobachtete, dass bei ihm während einer Vision die innere Seite der Augenlider so weit nach oben klappte, dass er, nachdem die Gegenstände wieder verschwunden waren, die Augenlider mit seinen Finger wieder herunter ziehen musste, ja manchmal andere bitten musste, dies für ihn zu tun, wenn er selber dazu nicht in der Lage war.“

Wir sind sicher, dass Martin um 1700 in Wahrheit solcherart staunende, erste, sich nach Schottland wagende Touristen gemeint hat, denen buchstäblich die Augen übergingen vor lauter Schönheit, die sie vorfanden. Sicher waren es solche, die nicht – oder zeitweise nicht – über unsere modernen „Zweiten Gesichter“ verfügten, mit denen wir das Wetter weise voraussagen können, mit deren Hilfe wir mit Menschen sprechen können, die weit entfernt und auf anderen Inseln und Kontinenten leben, mit denen wir uns nicht verlaufen können, indem unsere kleinen „Zweiten Gesichter“ uns den Weg zeigen. Unsere „Zweiten Gesichter“ können Visionen, Ansichten, Farben, Bilder festhalten und unsichtbar durch die Luft versenden, sie können uns morgens wecken, wie ein Hahn, der kräht, ohne etwas Böses zu verkünden, sie können Fotos machen, unsere Zweiten Gesichter, wie alle unsere Fotos hier in diesem kleinen Bericht eigentlich „Second Sights“ sind, und sie können – schweigen, wenn sie ins Loch Netz gefallen sind. Cheers.