In der Zeit, da das Abitur naherückte, musste ich mich denn doch einmal mit der Frage beschäftigen: ob ich ein Dichter oder ein Philosoph werden wollte. Ob die Unterschiede zwischen beiden Berufsgruppen so groß sind, dass sich diese Frage lohnt, fragten mich andere. Ja, es gibt keine größeren, rief ich. Denn wer schweigen kann, wird Philosoph bleiben. Aber wer das Dichten unterlässt, kann nie ein Dichter werden. Des einen Beruf ist, nichts zu tun, des anderen, das genaue Gegenteil. Das ist wie Räuber und Polizei: Der eine bleibt nur Polizist, wenn er nichts klaut, der andere kann nur ein Räuber werden, wenn er etwas klaut. Was der eine nicht tun sollte, darf der andere nicht lassen.
Die Weisheit des Philosophen ist der Kaiserweg durchs Leben, und der Kaiser trägt seine Weisheit wie seine neuen Kleider, von denen uns das Märchen belehrt, dass sie gar nicht existieren. Das kleine Kind, das ruft: Aber er hat ja nichts an!, das hat das Zeug zum Kritiker. Die beiden Halunken, die dem Kaiser nichts verkaufen, außer den Glauben an die Kleidung, waren mir schon in meiner Jugend ein Faszinosum. So wollte ich leben: den Leuten etwas verkaufen, was es gar nicht gibt, und behaupten, nur gebildete Menschen könnten das sehen, was ich ihnen verkaufte.
Woran aber leiden wir Menschen, die gerne schreiben, aber nichts rechtes zustande bringen, die von einer Schreibhemmung geneckt werden, ihren Zustand eine Schreibkrise nennen, die sich über Jahre hinziehen kann? Im Wort Krise steckt dabei die Zuversicht einer temporären Unterbrechung, einer Flaute, während der die Segel schlaff herunterhängen, bis der Wind wieder weht.
Ich möchte nicht über andere schreiben. Ich habe mit mir selbst genug zu tun. Über andere schreiben, das ist ein Ausweichen, es verdrängt nur, dass ich nichts zu schreiben habe. Es ist keine Kunst, über die Schreibkrise anderer zu referieren. Man entwindet sich der Schreibkrise am leichtesten, indem man Philologe wird, Literaturwissenschaftler, dann bedient man sich der Ideen anderer auf rechtmäßige Weise. Zu zitieren ist dabei eine edle Form von Diebstahl. Die Buße des Zitierenden liegt in den Bücklingen gegenüber dem Zitat, das man sich auf den Tisch stellt, und nun steht es da herum in der Räuberhöhle, und man weiß nicht: was damit anfangen, wie nun damit umgehen, denn so ein gutes Zitat, das man eben ergatterte, will bald versorgt sein, es will eingekleidet sein in einen Kommentar, eingegliedert werden in eine Kette aus anderen Zitaten, aber was ich zwischen die Zitate schreibe, kann ich gar nicht schreiben, weil ich ja in einer Schreibkrise stecke. Nein, ich muss schon allein klarkommen. Mir geht ein Interview nicht aus dem Sinn, das ich mir im Wortlaut noch einmal heraussuche und das ich nachlese. Darin fragt ein Journalist einen Schriftsteller:
„Sie leben ja noch, also befinden Sie sich ja auch noch im Zustand des Schreibens, obwohl Sie nun schon so lange schweigen. Eine Schreibhemmung – das Wort steht immer noch im Raum – ist es ja nicht, wie Sie sagten.
Nein, es ist keine Schreibhemmung. Ich habe keine Angst, mich an den Tisch zu setzen und zu schreiben, ich kenne auch, na ja, keine Angst vor der Enttäuschung, aber auch keine Flucht vor der Arbeit. . . Sehen Sie: Ich könnte ja schreiben, ich brauchte ja nur für drei oder vier Monate an einen geeigneten Ort fahren, und ich käme mit dem Buch zurück.
Aber Sie tun es nicht. –
Vielleicht kann ich es nicht tun, aber das hat wirklich nichts mit einer Schreibhemmung zu tun, das ist aber auch kein Alibi.
Ist es dann vielleicht eine Schreiblähmung?
Nein. Ich muß Ihnen da etwas anderes sagen: . . . Ich bin mit meinem Schreiben an einen Punkt gelangt, wo ich nicht brutal rücksichtslos egoistisch genug bin, um jeden Preis zu schreiben … Es liegt sehr kompliziert. . . Das werden Sie alles gar nicht verwenden können, es tut mir leid, Sie werden mit einem unbrauchbaren Tonband nach Köln zurückreisen müssen … Es schwebt mir im Augenblick eine ziemlich absurde und wahrscheinlich unverständliche Äußerung vor: . . . Ich lebe in einem Roman, und das mindert meinen Willen, ihn zu schreiben, zehrt auch an meiner Kraft.
Ist es nicht mehr erforderlich, den Roman zu schreiben, weil Sie ihn leben?
Doch, es ist erforderlich, ich wache ja nachts auf vor Angst, daß ich ihn nicht schreibe, ich liege ja schlaflos und träume von meinem Verleger, von Herrn Unseld, sehe ihn in seinen Verlagsräumen sitzen vor einem leeren Schreibtisch, und man trägt die Möbel aus dem Verlag heraus, sie werden gepfändet, und auch den Schreibtisch zieht man ihm schließlich weg, und Herr Unseld sitzt völlig verzweifelt und verarmt da, nur weil ich das Manuskript nicht abgegeben habe.“[1]
Als wenn der Journalist wüsste, was der Unterschied zwischen einer Schreibhemmung und einer Schreiblähmung sei, als wenn es solch einen Unterschied gäbe! Der Interviewer, Christian Linder 1971, versteht hier gar nicht, dass er mit seiner Fragerei die Schreibkrise des andern überwinden hilft, während sein Interviewpartner, Wolfgang Koeppen, eines der besten Prosastücke zum Thema liefert, das wir haben. Was tut es, ob Koeppen hier auf Papier schreibt oder auf Band spricht, es ist oberste Literatur.
Eine Schreibkrise, meine Schreibkrise scheint derweil der Reflex auf ein Gefühl von Sinnlosigkeit zu sein. Nicht dass mir nichts einfällt, narrt mich, sondern dass ich aus meinen Einfällen keine Texte bilden kann. Etwas sperrt sich in mir. Etwas sagt in mir, – das ist sinnlos, wozu willst du das aufschreiben, es führt zu nichts, es ist schlecht, das gefällt niemandem, das gibt es schon, das ist ein Aufguss, das lockt keinen Hund hinter dem Ofen hervor, danach kräht kein Hahn, du brichst dir einen ab, weil die Katze das Mausen nicht lässt, du Esel. Da sind sie, meine vier Bremer Stadtmusikanten des Selbstzweifels, die etwas Besseres als den Tod der Phantasie überall finden können. Wer sich in einer Schreibkrise wähnt, die besser Phantasiekrise heißt, sollte handeln, wie Walter Benjamin empfiehlt:
„Höre niemals mit dem Schreiben auf, weil dir nichts mehr einfällt. Es ist ein Gebot der literarischen Ehre, nur dann abzubrechen, wenn ein Termin (eine Mahlzeit, eine Verabredung) einzuhalten oder das Werk beendet ist.“[2]
Die nächste Mahlzeit ist noch weit entfernt und Verabredungen habe ich heute nicht. Seit langer Zeit tue ich nichts anderes mehr als dieses Gebot zu befolgen, und es wird von Tag zu Tag schlimmer, dünner, nichtssagender. Die letzten Mahlzeiten habe ich enorm in die Länge gezogen und in meinen Verabredungen bin ich sehr anhänglich geworden, ich bin überpünktlich zur Stelle oder gehe zu Fuß zurück, wo andere ein schnelleres Verkehrsmittel wählen.
Ich meide den Schreibtisch. Wenn ich unterwegs bin, trage ich stets ein Notizbuch bei mir, denn es könnte ja sein, dass mir unterwegs die entscheidende Idee einfällt, die ich zuverlässig wieder vergessen würde, bis ich zuhause eintreffe, um zum nächsten leeren Blatt Papier zu hechten, um den Stift anzusetzen, und: entfallen. Mir ist entfallen, was mir eben noch im Straßenverkehr eingefallen war. Damit mir das nicht passiert, klemmt mein Notizbuch in meiner Innentasche. Aber außer den Terminen steht noch nicht viel darin.
Wenn ich auf einen Einfall warte, sitze ich auf einer Parkbank, lehne mich nach vorne und stütze den Ellbogen fest auf den Oberschenkel, und das Kinn lege ich auf die offene Handfläche, es ist die typische Denkergeste, mit der ich meine Einfallslosigkeit kultiviere. Auch ist es die Sitzhaltung des merkwürdigen Engels, den Albrecht Dürer Melencholia I nennt. Es ist doch seltsam, dass die Denkergeste der Haltung der Melancholie sehr ähnelt. Der Grund wird darin liegen, dass der Denker nicht denkt, sondern grübelt. Was anders ist Grübeln im Kopf wie das permanente Weiterschreiben auch dann, wenn uns nichts einfällt. Was ist Benjamins Empfehlung, auch bei Kopfleere weiterzuschreiben, anderes als ein Grübeln, dessen wir uns gar nicht entsagen können, nur dass es auf Papier mitstenografiert wird. Wir setzen dann darauf, dass im Getriebe des Grübelns der Schreibstift oder die Tastatur gleichsam wieder einhakt, einen Gang einlegt, und das Gefährt der Phantasie wieder vorwärts ruckelt.
Viele überlange Bücher machen auf mich den Eindruck, als seien sie eben auf diese Weise entstanden, indem die Autoren auch bei Sinnleere einfach schreibend weitergegrübelt haben. Sie versäumten, diesen geistigen Leerlauf nach Fertigstellung zu löschen, damit die guten Einfälle erhalten bleiben. Manches Buch gleicht, wie meine Schreibkrise, jener Segelfahrt, die aus langen Flauten besteht. Diese Flauten füllen die Seiten mit Geschwätz, während die Segel-Passagen heftiger aber kurz sind. Oder nehmen wir dieses Bild, demnach ein dickes Buch einer langen Autobahnfahrt gleicht, die voller Staus ist. Die Textmassen im Stau sind ungleich größer als die eleganten Gedanken bei schnellerer Fahrt, und nur die führen zum Ziel. Grübelnde Textmassen erhöhen dabei die Gefahr von Gedankenstaus. Das lässt sich physikalisch beweisen. Wenn bei einem Verkehrsaufkommen von – sagen wir: eintausend Autos die Geschwindigkeit, mit der sie fahren, relativ hoch ist, so würde ein Beobachter am Straßenrand von diesen Autos gar nicht viel sehen, nur ab und zu würde eines mit hoher Geschwindigkeit passieren. Denn die Verweildauer auf der Autobahn ist bei hoher Geschwindigkeit relativ kurz. Würde für diese eintausend Autos die allgemeine Geschwindigkeit deutlich gedrosselt, so würde die Verweildauer auf dem gleichen Streckenabschnitt sich signifikant erhöhen, so dass die vorderen Fahrzeuge sich noch auf der Autobahn befinden, während die hinteren bereits nachdrängen. Der Verkehr wird dichter. Bücher gleichen dem. Manche kommen gut voran, manche bergen viele Staus.
Ich kann nicht so, wie eben empfohlen, einfach weiterschreiben. Ich sitze da und mir fällt nichts ein. Es ist auch ein Geheimnis um die Phantasie, ähnlich wie die Seele, etwas ist in uns, mit dem wir nicht zum Arzt gehen können, dass er mal die Phantasie abhorcht und sagt, – Ja, mein Lieber, da haben wir uns wohl eine Phantasie-Verstopfung zugezogen. Das geht nicht. Die Phantasie, das Geniale, das ist etwas, wie die Seele, wie das Ich, das es nicht gibt, das ist kein Organ, das kann man nicht finden, und ist doch das wichtigste für einen Dichter. Das macht ihm Angst. Die größte Sorge eines Dichters ist, dass ihm das Gefäß seiner Phantasie zerbricht und ausläuft. Solch ein Malheur hat etwas Peinliches, das jeder Schreiber versteht, der anderen mitteilt, ihm falle nun nichts mehr ein. So ging es mir. Bald fiel mir auf, dass die Rückfragen meiner Leser klangen, als reagierten sie auf etwas ganz anderes, als wäre die Schreibkrise eine Impotenz, und daher kommt vielleicht das Gefühl der Scham, das sich bei mir einstellte, als ich davon berichtete. Die Empfehlungen, die ich bekam, glichen jenen gegen sexuelle Impotenz:
Eine Wohlfühl-Umgebung schaffen, die Entkrampfung ausstrahlt. Der Weg sei das Ziel. Dem Thema ein Gesicht geben, denn die Erotik muss sich verkörpern. Ganz natürlich sein, nicht besonders schön schreiben wollen. Neue Gewohnheiten ausprobieren, neue Arbeitstechniken versuchen.
Warum nicht? Ich nahm diese Empfehlungen zu Herzen. Ich schlich um meinen Schreibtisch herum wie um meine Frau, legte nette Musik auf, stellte Blumen auf, schaltete Dämmerlicht an, zündete Räucherkerzen an, stellte zum Thema mehr oder weniger passende Bilder auf, um ihm ein Gesicht zu geben, legte mir einen locker auf dem Leib liegenden Seidenmantel um, goss mir einen reizenden Rotwein ein und legte mich bequem auf mein Canapée, da – trat meine Liebste ein, und fragte, -erwartest du jemanden? Was soll ich sagen, die Ratschläge, die ich so fand gegen Schreibkrisen, bereicherten mein Liebesleben sehr, ich war ein glücklicher Mensch, so lange, bis ich wieder vor meinem Schreibtisch stand. Beflügelt von den letzten Nächten setzte ich mich hin, las den letzten geschriebenen Satz, setzte an, wollte schreiben, aber es kam – nichts. Nichts aus dem Kopf, nichts aus dem Füllhalter. Er ist leer, dachte ich, nur die Tinte fehlte. Nein, sie war inzwischen eingetrocknet.
Eines Tages, mein Konto war bereits abgeräumt, ich hatte Mietschulden und sammelte nun leere Flaschen, um mir vom Pfand Brötchen zu kaufen, kam mir die Idee: Litt ich womöglich weniger an einer Schreibkrise, sondern vielmehr an einer Sprachkrise? War mein Genie durch die Wolkenschicht der Sprache durchgestoßen und drang ich in den Himmel des mystischen Schweigens? War nicht das die Erklärung, dass ich die Sprache überwunden habe und nun unter dem Sternenzelt die Zeichen der unendlich weiten Räume sah und schweigen sollte, und nur reden sollte, ich segnete denn, was ich ansprach?
Das erste Zeichen war, dass meine Liebste mich verlassen hatte. Als sie mir am letzten gemeinsamen Abend riet, -suche dir doch einen neuen Job, da krümmte und wand ich mich leidend, sprach viel von meiner Sendung. – Meinst du die Sendung, für die du im Funkhaus als Texter arbeiten solltest? – Nein, sagte ich kleinlaut, meine ideelle Sendung, meine Berufung als Dichter, mein Talent, mein Genie, mein… na du weißt schon, wenn ich es sagen könnte, hätte ich keine Schreibkrise. Dann sagte sie, – es dreht sich alles nur um dich, aber in der Mitte ist nichts, eine Leere. Ich sah sie an und sagte leise: – so kann man es sagen. Dann ging sie, und ich habe mich kadikalisiert.
Ich schwieg also. Klingelte das Telefon, nahm ich den Hörer ab, sagte aber nichts. Als ich beim Bäcker stand und nach meinen Wünschen gefragt wurde, schwieg ich. Im Reisebüro wurde ich gefragt, wo ich hinwolle, und ich schwieg. In der U-Bahn rempelte mich ein junger Mann an, der meinen Protest erwartete und sich zu mir drehte und knurrte, – sag das noch mal, du! Aber ich schwieg. Das machte ihn rasend, bis er unvorsichtig wurde, er konnte vom Bahnpersonal entwaffnet werden, mir wurde auf die Schulter geklopft, – da waren Sie aber tapfer mit Ihrer Ruhe, lobte man, und als mich ein Reporter fragte, wie hätte ich das gemacht, und: das soll noch in die Abendschau, da schwieg ich. Er sah mich an, ich schwieg ins Mikrophon hinein, und er sah in mir wohl etwas Unheimliches, er wich zurück und flüchtete. So wurde ich bald als er große Schweiger bekannt. Als mich ein Ausländer nach dem Weg fragte, schwieg ich. Andere sprangen herbei und halfen dem Fremden. Man half mir in meiner Schweigsamkeit, von der die Menschen annahmen, es sei eine Behinderung. Als mir ein Handwerker im Haus aus Versehen auf den Fuß hämmerte, schwieg ich. Kein Schmerzensruf war mir zu entlocken. Das überzeugte die anderen, dass ich wirklich nicht mehr sprechen konnte. Mit verzerrtem Mund kommunizierte ich den Schmerz des Hammers, und hüpfte, den Fuß haltend, in Pantomime auf die Straße. So bin ich wenigstens Philosoph geblieben.
[1] Aus: Interview Christian Linders mit Wolfgang Koeppen, hg. v. Ulrich Greiner, Frankfurt/Main 1976
[2] Benjamin, Einbahnstraße