Gibt es eine „edle“ Melancholie bei Jacob Böhme?

Saturn und Jupiter. Gibt es eine „edle“ Melancholie bei Jacob Böhme?

Über Melancholie zu schreiben ist etwas anderes als melancholisch zu schreiben. Das erste wäre ein Text wie der von den vier Complexionen, den wir nun etwas näher kennengelernt haben, das zweite aber wäre ein Textverständnis, bei dem unter der Oberfläche eine Matrix, eine Logik erkennbar wird, die den Schreiber im Geschriebenen abbildet. Dann aber kommen wir dorthin, wo Jacob Böhme oft selber war: in Teufels Küche. Uns fehlt jeder Begriff davon, was eine melancholische Schreibweise sein könnte zumal in der Rückschau von 400 Jahren.

Doch Böhme lag das Herz stets auf der Zunge. Als Mystiker träumte er von einer besseren Welt, doch sein Schreiben war von dieser Welt. Er predigt die Gelassenheit und kann sehr zornig und ungehalten schreiben. Er mahnt Toleranz an und lässt gegenüber Balthasar Tilken, Essajas Stiefel und Ezechiel Meth recht eigentlich keine Abweichungen von seiner Meinung zu. Er meint, die Melancholie überwunden zu haben und kann sehr traurig etwa über die Vertreibung aus dem Paradies oder Lucifers Sturz schreiben. Hätte er sich im Stil an seine Ideale gehalten, wäre sein Werk blutleer und steril. Die Wucht seiner Formulierungen, seine Auslassungen etwa über den „Ekel“ irdischer Leiblichkeit stehen den Idealen von der Wiedergeburt oder der Weisheit in Gestalt der Göttin Sophia weniger im Wege als vielmehr am Horizont einer Sehnsucht und Wehmut geschrieben. Auch dadurch kann Melancholie entstehen, wenn die Ideale der Wirklichkeit ausgesetzt werden. Welche weiteren Übersetzungen, neben der Traurigkeit, können wir dem Wort von der Melancholie zumuten? Das Gefühl des Schauderns, des Unheimlichen vor dem Übermächtigen womöglich, dann die Erfahrung von Enttäuschung, Frustration, einem Misslingen, drittens die Kraft der Verzweiflung, mit der er um Erlösung gerungen hat, bevor er erlöst wird.

Meine These ist nun, dass Jacob Böhme nicht an der Melancholie gelitten hat, über die er in der Trostschrift von den vier Complexionen berichtet, dass er seine Melancholie und die in der Complexionen-Schrift unterschiedlich beschreibt, und dass der Grund für diese Differenz in der Selbstermächtigung zum Schreiben liegt. Es wird also nötig sein, zwischen den Texten Böhmes und einigen biographischen Gegebenheiten zu springen.

Die älteste nachweisbare Notiz Böhmes zur eigenen Melancholie stammt von 1612 aus der Aurora.

„Es haben die Menschen je und allwege gemeinet, der Himmel sey viel hundert oder tausend Meilen von diesem Erdboden, und Gott wohne allein in demselben Himmel; es haben auch wol etliche Physici sich unterstanden, dieselbe Höhe zu messen, und gar seltsame Dinge herfürbracht. […]

Als mir aber dieses gar manchen harten Stoß gegeben hat, ohne Zweifel von dem Geiste, der da Lust zu mir hat gehabt [der Teufel], bin ich endlich gar in eine harte Melancholey und Traurigkeit gerathen, als ich anschauete die grosse Tiefe dieser Welt, darzu die Sonne und Sternen, sowohl die Wolcken, darzu Regen und Schnee, und betrachtete in meinem Geiste die gantze Schöpfung dieser Welt.“ (Mr 19, 3 und 5)

Der hier in die unendlichen Weiten des Raumes sieht, erlebt an sich selber ein Gefühl, das jeder Mensch teilen könnte, der einen Blick in den Kosmos wagt. Die beiden Absätze enthalten einige sonderbare Formulierungen. Die genannten Physici brachten beim Vermessen „gar seltsame Dinge“ hervor, die uns Laien beunruhigen oder wenigstens staunen lassen.

Die „seltsamen Dinge“ in den Erkenntnissen der Physiker sind Wahrheiten, die sich unserer Vorstellungskraft entziehen, etwa in jener Zeit die allmähliche Durchsetzung des kopernikanischen Weltbildes. Nicht die Erde steht im Zentrum des Himmels, wie Böhme weiß:

 „Diese Meinung ist unrecht: sondern die Erde drehet sich um, und lauffet mit den andern Planeten als wie in einem Rade um die Sonne. Die Erde bleibet nicht an einem Orte stehen; sondern lauffet in einem Jahr einmal um die Sonne, wie auch die andern Planeten unter der Sonnen: ausgenommen Saturnus und Jupiter könnens von wegen ihres weiten Umgangs und grossen Höhe nicht (in einem Jahre) thun, dieweil sie hoch über der Sonnen stehen.“ (Mr 25; 61)

Böhme scheint den kopernikanischen Schock als Erfahrung eines kosmischen Schauers erlebt und die Neuordnung des Himmels als Herausforderung erfahren zu haben. Gerät jemand in eine Melancholie, weil man den Kosmos „anschauete“? Hatte er durch ein Fernrohr geschaut? Ich frage mich, wo kommt die Melancholie her, indem er uns über das kopernikanische Weltbild belehrt, und wo ist dabei der unausweichliche, physiologische Complexionen-Charakter, wenn er über die Tiefe dieser Welt nachdenkt? Erhält er dadurch eine andere Complexion? Bitte merken Sie sich die Namen Saturn und Jupiter, auf die ich noch zurückkommen werde.

Kurz danach, nur wenige Absätze später, heißt es in der Aurora über die Ungerechtigkeiten unter den Menschen, mithin nun eine Stufe unterhalb des Himmels, nämlich auf der Erde, er ward…

 „derowegen gantz melancholisch und hoch betrübet, und konnte mich keine Schrift trösten, welche mir doch wohl bekant war: darbey dann gewißlich der Teufel nicht wird gefeyret haben, welcher mir dann oft heidnische Gedanken einbleuete, derer ich alhier verschweigen will.“ (Mr. 19; 9)

Was sind „heidnische Gedanken“? Solche, die nicht in der Bibel stehen oder ihr widersprechen? Warum will er sie verschweigen? Traut er uns nicht zu, dass wir sie ertragen könnten? Die Vokabel „heidnisch“ kommt an zwei weiteren Stellen vor: Ebenfalls in der Aurora heißt es: „Ich schreibe nicht heidnisch, sondern philosophisch.“ (Mr. 23;10) offenbar war ihm das Verhalten der Menschen von außerchristlichem Heidentum, worüber er melancholisch wurde. Mit dem Vokabular des Kampfes und des Ringens, mit langen, nächtelangen aktiven Strittigkeiten kämpft der Schuhmacher wild und um geistiges Leben und Tod, bis es am Ende heißt:

  „Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist (dann ich wenig und nichts verstund, was er war) ernstlich in Gott erhub als mit einem großen Sturme, und mein ganz Herz und Gemüthe samt allen andern Gedanken und Willen sich alles darein schloß, ohne Nachlassen, mit der Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu ringen, und nicht nachzulassen, er segnete mich denn, das ist: er erleuchtete mich denn mit seinem Hl. Geiste, damit ich seinen Willen möchte verstehen und meiner Traurigkeit los werden; – so brach der Geist durch.“ (Mr. 19; 10)

Ist dies eine Beschreibung der Überwindung von Melancholie? Wie passt sie zu den Empfehlungen im Umgang mit ihr in der Complexionen-Schrift? Zunächst einmal wird Jakobs Kampf mit dem Engel zitiert (1 Mose 32; 23-29), der bis zur Morgenröte dauerte, die dem ersten  Werk Jacob Böhmes den Namen gab. Das Durchbrechen aber ist ein wichtiges Verb in der deutschsprachigen Mystik. Valentin Weigel zitiert in seiner Schrift von  der Gelassenheit den Meister Eckhardt, der in der 52. Pedigt sagt: „Denn ich entphahe (erfuhr) inn diesen Durchbrechen, das ich und Gott eins seindt.“ (S. 68) Dass die unio mystica die Melancholie beseitigt, scheint mir evident, aber wenn etwas durchbricht, muss dem eine große Anstrengung vorangegangen sein. Diese komponierte Stimmigkeit aber klingt mir zu sehr zitiert, als dass ich darin ein echtes Seelenerlebnis sehen könnte. Denn schreibt er seine Werke in einer unio mystica?

Die beiden Bücher um 1619 und 1620, die 3 Prinzipien und vom dreifachen Leben, sind voll von verbitterten sozialen Anklagen. In die Zeit um 1620 fällt der nächste Textzeuge zur Melancholie: Wir finden ihn im zweiten Teil der „Menschwerdung Jesu Christi“ von Ende 1620. Dessen zweiter Teil heißt im Untertitel: „Wie wir müssen in Christi Leiden, Sterben und Tod eingehen“ also die imitatio christi-Folge und das Leidens-Thema, das von Haus aus bereits sehr in der Nachbarschaft der Melancholie wohnt. Über sie heißt es:

 „Die Welt vermeinet schlechts, man müsse Gott mit den irdischen und Sternen-Augen sehen, sie weiß nicht, daß Gott nicht im Aeussern wohnet, sondern im Innern; und so sie denn nichts wunderliches an Gottes Kindern siehet, spricht sie: O! er ist ein Narr, er ist närrisch geboren, er ist melancholisch, so viel weiß sie. O höre Meister Hans, ich weiß wol, was Melancholey ist, weiß auch wol was von Gott ist, ich kenne sie beide und auch dich in deiner Blindheit; Aber solch Wissen kostet nicht eine Melancholey, sondern ein Ritterlich Ringen: Denn keinem wirds gegeben ohne Ringen, er sey dann im Ziel von Gott erkohren, er ringe denn um das Kräntzlein.“ (Mw 2, 7; 11)

Hier stellt er die Melancholie gegen das ritterliche Ringen, mit dem er sich befreit habe. Auffallend ist hier, wie er den Blick von den Sternen abkehrt und nach innen richtet.

In der Complexionenschrift von 1621 wird der von der Melancholie Befallene weniger  mit dem Ringen identifiziert, sondern sein Leiden als eine schier unheilbare Krankheit verstanden, mit einer Ausnahme.

 „die traurige Seele betrübet sich um deswillen also, daß sie nicht kann grosse Freude im Hertzen erwecken in ihrer Begierde, sie ächzet und klaget, und dencket, Gott wolle ihr nicht, wenn sie nichts fühlen kann. So siehet sie andere Menschen an, die da fröhlich sind, […] sie aber sey vor Gott nicht angenehme, Gott wolle ihr nicht […]. Vor der Zeit meiner Erkenntniß war mir eben auch also, ich lag im harten Streit. […] Es ist den grossen Heiligen also gegangen, daß sie viel Zeit um das edle Ritter-Kräntzlein haben ringen müssen […]“ (Com 78-80)

Im Unterschied zu allen anderen Stellen zur Melancholie wirkt diese im Stil zwischen Rührung und Trost, wir können uns das melancholische Mauerblümchen vorstellen, das Gott vergessen haben könnte und aus den wehmütigen Winkel der Augen die Glücklichen dieser Welt vorbeitanzen sieht. Der „harte Streit“ steht im Widerspruch dazu, ebenso wie die großen Heiligen, mit denen Böhme sich zu identifizieren beliebt. Er schreibt hier leicht von oben herab.

Weitere ausführliche Textstellen zur eigenen Melancholie sehe ich bei Jacob Böhme nicht. Aber wir können noch lange kein Fazit ziehen. Fragen stellen sich erst jetzt: Wie bewerten wir die Unterschiede zwischen der Melancholie in der Compexionen-Schrift und der in anderen Werken? Böhmes Erlösung von der Melancholie muss ihm empfohlen haben, auch andere Menschen zu heilen. So ist etwa die Schrift von den Vier Complexionen eine Auftragsarbeit des Gönners Siegmund von Schweinichen, der sich für melancholisch hielt und, wir hörten es gestern, nach Lektüre eines anderen Böhme-Textes in eine Ekstase geriet und sich fortan für geheilt ansah.

 Ich fahre fort mit einem kurzen Text, der Sie darin enttäuschen könnte, dass er nicht von Böhme stammt, aber über ihn handelt: Er berichtet die Reihe der Visionen, die Böhme gehabt habe, bevor er mit dem Schreiben begann. Zum zweiten Male, so heißt es, „wird er mit des 17. Seculi Anfang, nemlich Anno 1600, als im 25. Jahre seines Alters zum andernmal vom Göttlichen Lichte ergriffen, und mit seinem gestirnten Seelen-Geiste durch einen gählichen [jähen] Anblick eines Zinnern Gefässes (als des lieblichen Jovialischen Scheins) zu dem innersten Grunde oder Centro der geheimen Natur eingeführet […].“ (Bericht I;11)

Diese Bemerkung, Sie kennen sie gewiss, stammt von Abraham von Franckenberg, sein Schüler und Biograph, der seine Lebensbeschreibung lange nach Böhmes Tod, 1651, verfasst hatte, selber natürlich nicht anwesend war, als das geschah, was er hier beschreibt. Wir legen einmal keinerlei Wert auf biographistische Faktentreue, sondern interpretieren eine Legende. Worin besteht sie genau? Zumindest in einer typischen Situation des Schusters, der ins reflektierte Licht eines zinnernen Gefäßes blickt. Der Lichtschein ist Jovialisch. Wörterbücher des Barock informieren uns darüber, dass Komposita mit Jovial, jovialisch aus der Alchimie stammen, in der damit Jupiter gemeint ist (Jovis ist auch Genitiv zu Jupiter). Das „zinnerne Gefäß“ bestätigt diesen Bezug, indem Zinn als das Metall des Jupiter galt. Jupiter scheint hier der Auslöser einer Befreiung und der Erkenntnis-Gabe zu sein. Aber wovon befreit er? Das steht nicht bei Franckenberg. Um das besser zu verstehen, müssen wir ein wenig in die Ordnung der Himmelskörper bei Böhme einsteigen.

 Es sind deren sieben, soweit sie der damaligen Astronomie bekannt waren.

Dabei bieten sie sich an, mit der 7-stufigen Qualitätenlehre Böhmes verlinkt zu werden.

  1. Gestalt: Saturn
  2. Gestalt: Jupiter
  3.  Gestalt: Mars
  4. Gestalt: Sonne
  5.  Gestalt: Venus
  6. Gestalt: Merkur
  7. Gestalt: Luna

(vgl. Sign.Rer. 9;9 bis 24)

In der frühen Neuzeit waren solcherlei Zuordnungen Interpretamente für die Eingebundenheit des Menschen in die Ganzheit von Erdenleben und Himmelsgeschehen, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos.

Aber hier fällt ein Widerspruch auf: die Erde fehlt. Stattdessen ist die Sonne unter die Planeten gegangen. Erinnern Sie sich, Böhme hatte in der Aurora die Erde unter die Planeten gestellt.

In seiner Qualitätenlehre fällt er offenbar ins ptolemäische Weltbild zurück, aber damit war er nicht allein. Zunächst entstammt diese Planetenfolge der klassischen Alchimie, die diese Planeten-Belegung seit dem 9. Jahrhundert kennt. Sie hat Böhme so übernommen, wie sie ihm wo auch immer begegnet ist. Aber Jacob Böhme hat gar nicht laboriert, er war kein Alchimist und hat mit den Strukturen und Termini der Alchimie assoziativ gearbeitet. Der Philosoph, von dem er viele solcher Kenntnisse erwarb, Valentin Weigel, hatte kurz vor ihm in seinem Werk „Vom Orte dieser Welt“ ebenfalls das geozentrische System in Wort und Bild noch vertreten.

Warum leistet Böhme sich diesen Widerspruch? Ich sehe zwei Möglichkeiten:

  1. Hinter den Werken Böhmes stehen verschiedene „Einflüsterer“, bzw. Böhme bezieht aus sich widersprechenden Quellen, seien es Bücher oder persönliche Begegnungen.
  2. Dieses und andere Beispiele zeugen von einem Desinteresse an der Naturimmanenz der Astronomie, so dass es sich bei naturkundlichen Sachverhalten, die Böhme mitteilt, stets nur um Gleichnisse handelt. Bei Böhme stünde das „Erkenne dich selbst“ höher als eine reine Natur-Erkenntnis. Und in der Tat sagt er:

„Unser Schreiben langet nicht dahin, daß wir wollen die Gottheit in der ewigen Natur ausgründen; Nein, das kann nicht seyn, sondern daß wir wollen dem Blinden den Weg weisen, welchen er selber gehen muß: Wir können nicht mit seinen Füssen gehen (…).“ (3L 2;46)

Diesen Gedanken könnte er unmittelbar von Valentin Weigel bezogen haben, in dessen Werk gnothi seauthon es heißt:

„Ja, es ist besser, du erkennst dich selber, denn daß du alle Dinge weißt im Himmel und auf Erden.“ (gn. se. I, 2. Kap. wollgast s. 171) Böhmes Schriften dienen nicht der Wiedergabe von Fakten der Wissenschaft, sondern einer Bewusstmachung.

Wenn dem so ist: warum fällt er aber beim Blick in die Tiefen in eine Melancholie, wenn die Sternentiefe subaltern ist? Antwort: In der Logik der Erlösung lag die Melancholie zeitlich VOR den Schriften, VOR den Gleichnissen, und als er schrieb, war sie ja überwunden und er schrieb als ein anderer. Es kann zum Prozess der Besiegung der Melancholie gehört haben, DASS die Sternen-Natur nicht mehr so wichtig war, als er begann, sich mit seinem Innern zu beschäftigen. Das sinnlose Gelehrtenwissen über die Natur könnte seine Melancholie befördert haben, und als er einsah, dass das Wissen gar nicht so wichtig scheint, da konnte er schreiben und er verlor seine Melancholie. Er schrieb nicht deshalb, weil er von der Melancholie erlöst war, sondern er verlor seine Hemmungen (Melancholie), weil er schrieb.

Das wirft ein neues Licht auf das Werk von den Vierzig Fragen, die Böhme 1618 gestellt bekam und  1620 beantwortet hatte. Sie nämlich könnten dazu beigetragen haben, das Schreibverbot abzuschütteln, das fünf Jahre lang von 1613 bis 1618 gewiss Melancholie-Potential in sich trug.

Die Alchimie und die Naturkunde würden bei Böhme nicht angewendet, sondern ästhetisiert, oder, wenn man lieber sagen will: poetisiert. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Alchimie und Melancholie, der das Scheitern und das Nichtgelingen alchimistischer Experimente spiegelt: Solange die Alchimie etwa auch eine Goldmacherkunst gewesen ist, muss sie ihre Adepten schier zur Verzweiflung gebracht haben.

Der Tabelle „Makrokosmos“ in Böhmes „Tafeln“ ist zu entnehmen, dass dem Saturn traditionell, aber auch hier die Verfassung des „Melancholischen“ beigeordnet ist.

Die Besetzung Saturns in der ersten und siebten Gestalt besagt einen Kreislauf, bei dem der Zeiten Ende ihr Anfang sein wird. Saturn, Chronos, ist auch der Gott der Zeit. Saturn spielt in der Aurora eine hervorgehobene Rolle. So befasst sich Böhme im letzten der fertiggestellten Kapitel mit Saturn.

Sehen wir uns bei Zeitgenossen oder Vorläufern um, so geraten wir – Sie können es sich denken – an die wohl berühmteste Darstellung der Melancholie:

 jene von Albrecht Dürer gezeichnete, (1514). Sehen wir uns diese etwas genauer an: Die Körperhaltung sagt uns, dass diese Figur, ein geflügeltes Wesen auch noch, irgendetwas zwischen Denken und Grübeln macht, denn der auf die Hand oder Faust aufgestützte Kopf ist das gemeinsame ikonographische Kennzeichen von Melancholie und Denken, das sich durch die Jahrhunderte zieht. Der Hund liegt etwas faul in der Gegend herum, die geometrischen Instrumente könnten suggerieren, dass die Vermessung der Dinge, das Faktenwissen der Dinge, diese abgebildete Dame nicht befriedigt. Die Kugel kommt uns bekannt vor. Sie macht auch in der Erkenntnistheorie Böhmes einiges her, in vielerlei Hinsicht. Hinter dem grübelnden Engel hängt eine quadratische Tafel mit 16 Zahlen, die in jeder Richtung addiert die Zahl 34 ergibt. Hier weiß der Zeitgenosse, dass es sich um eine Zinntafel handelt, ein Metall, das uns bereits begegnete. solche Jupiter-Tafel auch bei Paracelus in der magia naturalis. (s. 327)

Rätselhaft heißt diese Darstellung „Melencholia I“. Warum Eins? Auf der Suche nach Klassifizierungen der Melancholie, die Dürer gekannt haben könnte, stieß man auf jenen magischen Gelehrten und Geheimwissenschaftler Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486 – 1535), der in seiner Melancholie-Theorie drei Arten annimmt: Erstens die Künstler-Melancholie, zweitens die Gelehrten-Melancholie und drittens die Heiligen-Melancholie. Über einem Bildnis Jacob Böhmes, das seine Melancholie emblematisch benennen wollte, würde, Albrecht Dürer und Nettesheim zufolge, „Melencholia III“ stehen müssen.

Künstler, Gelehrte, Heilige: das ist schon ein exklusiverer Club, dessen Mitglieder offenbar mit der Melancholie rangen, und gewannen, denn sonst wären sie keine Künstler, Gelehrte oder Heilige geworden. In ihre Reihe stellt sich Jacob Böhme selbstbewusst hinzu. Selbst bei Martin Luther gibt es eine noble, eine geistig hochstehende Melancholie, an der nicht jeder leiden darf:

Unter Luthers zahlreichen „Trostschriften“ findet sich auch eine „Trostschrift für eine Person in hohen Anfechtungen“ (1529), in der Luther dem „bösen Geist der Schwermut“ mit verstärktem Gotteslob und Musik zu begegnen anrät. Musik übrigens empfehlen alle Melancholie-Ratgeber: neben Luther auch Masilio Ficino, Paracelsus, Robert Burton, während sie bei Böhme in der Complexionen-Schrift fehlt. Die durch Melancholie angefochtene Person möge, sagt Luther, „Gott danken mit Fleiß, dass sie solcher Heimsuchung würdig ist, deren so viel tausend Menschen beraubt bleiben.“ Auch bei Luther also hat die Melancholie eine edle Note, die sich durchaus mit der Bibel verträgt: Bei Paulus (2 Kor. 7;10) heißt es beispielsweise: „die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Seligkeit eine Reue, die nieman­den reut, die Traurigkeit der Welt aber wirkt den Tod.“

Der Philosoph Marsilio Ficino gilt als der Melancholie-Papst der Renaissance, der sie aus der Antike geholt hat. Ein Pseudo-aristotelischer Text mit dem Titel Problema 30 nämlich enthält die These, dass alle großen Geister anfangs notwendig Melancholiker gewesen sein mussten. Für die Renaissance, die einen Sinn für große Geister besaß, war diese Bestimmung eine Abkehr vom Konzept der Acedia, der Tatenlosigkeit, des Überdruss, der übermäßigen Traurigkeit. War die Acedia noch eine der sieben Todsünden, so hat Ficino, so hat die Renaissance die Sünde der Acedia, wie bereits erwähnt, zum Krankheitsbild der Melancholie erhoben.  Hat Jacob Böhme Ficinos Schriften gekannt?

Die erste Auflage des Werkes von Ficino stammt von 1497 und lief unter dem Titel De triplici vita, also Vom dreifachen Leben, ein Titel, der uns sehr bekannt vorkommt. Später, ab 1498, hieß er korrigiert de vita libri tres, also drei Bücher über das Leben. Die erste Übersetzung ins Deutsche stammt aus 1505 unter dem Titel Das Buch vom Leben. Das Werk enthält das medizinische Wissen der Zeit über die Melancholie und ihre Überwindung. Paracelsus hat Ficino zustimmend rezipiert, aber in seiner Melancholie-Diskussion die feste Zuordnung der Melancholie als lebenslanges Schicksal abgelehnt. Insofern kann Paracelsus eher nicht als Pate der Complexionenschrift Böhmes zur Verfügung stehen. Er lehnt sogar den Begriff der Complexion ab. (Pagel S. 60)

 „Nun ist ein Irrsal, das von der Cornplexionen-Lehre vorgegeben wird, eingefallen, daß man sagt: der Mensch ist ein sanguinicus oder cholericus oder phlegmaticus oder melancholicus, und ist doch der keines nicht. Und das hat vielfältige Ursach. Eine gemeine ist die, daß das, was man complexiones heißt, das Leben gibt, und darum, daß es  das Leben gibt und nicht die drei Substanzen, soll es auch der Arzt nicht vornehmen. Denn das, was im Leben ist, und was dem Leben zusteht und anhängt, das ist dem Arzt nit unterworfen. Ob schon solche complexiones da wären, so ist es dem Arzt nicht zuständig das zu be­trachten. Denn was mit dem Leben hingeht, das ist einem Arzt und seiner Theorie nicht gegeben vorzunehmen, und dies soll der Arzt wohl bedenken. […] Daß Sitten, Gebärden, Art, Weise, Gebrauche usw. aus dem Complexion seien, das ist nicht, denn sie sind vom astro, nit von der Complexion. Die Galle macht keinen Zorn, aber Mars.“ (Opus paramirum 17)

Ficino nun spricht ausgiebig über zwei Arten der Melancholie, und das schicke ich hier gleich hinterher:

 „Die Melancholie oder schwarze Galle ist zweigestaltig: Die eine wird von den Ärzten natürlich genannt, die andere entsteht durch Verbrennung. Die natürliche ist nichts anderes als ein dickerer und trockenerer Teil des Bluts. Die durch Verbrennung entstandene dagegen teilt man in vier Arten ein: Sie wird verursacht durch das Verbrennen entweder der natürlichen Melancholie, oder des reineren Bluts, oder der Galle, oder des salzigen Phlegmas. Jede durch Verbrennung entstandene Melancholie schadet der Urteilskraft und der Weisheit. Denn wenn sich dieser Humoralsaft entzündet und brennt, pflegt er die Menschen in Exaltation und Raserei zu versetzen, was die Griechen als Manie, wir aber als Furor bezeichnen. Sobald der Brand aber gelöscht ist, die subtileren und klareren Teilchen verflogen sind und nur fauliger schwarzer Ruß übrig bleibt, macht dies die Betroffenen stumpfsinnig und dumm. Diesen Zustand bezeichnet man im eigentlichen Sin­ne als Melancholie oder auch als Blödigkeit und Wahnsinn.“

Die natürliche Melancholie wäre daher die weniger aussichtslose, trostlose manische Depression, sondern trifft die, die hochbegabt sind, Forscher, Gelehrte, die zu viel in dunklen Kammern sitzen und stickige Luft atmen. Frische Luft täte ihnen gut.

Ich liege wohl nicht ganz falsch, wenn ich bei Jacob Böhme ebenfalls zwei Arten der Melancholie feststelle: diese bei Ficino natürliche Melancholie wäre die NICHT zu den vier Temperamenten gehörende, unausweichliche, von Geburt mitgegebene Melancholie, von der in den „Vier Complexionen“ die Rede ist. Die natürliche Melancholie wäre diejenige, die durch Jupiter erlöst werden kann. Die krankhafte Melancholie wäre die aussichtslose, mit der die Betroffenen leben müssen und deren Auswirkungen und Symptome sie lindern können, gemäß der Empfehlungen Böhmes in der Schrift von den „vier Complexionen“. Böhmes eigene Melancholie aber folgt dem Muster einer zur Erlösung vorgesehenen und ihr vorgeschalteten intellektuellen Grübelei.

Ich habe Abraham von Franckenberg zitiert, wie er Böhmes zweites Erleuchtungserlebnis auf 1600 datiert hat. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hat Böhme ihm selbst dieses Jahr genannt, denn in einem Brief von 1621 verlegt er selbst seine entscheidende Vision auf die Jahrhundertwende. Aber in diesem Brief (Nr. 12) ist das Verhältnis von der Grübelei zur Vision komplizierter als bei Franckenberg. Hier eine kurze Paraphrase:

Mit einer Demutsgeste habe er, Jacob Böhme, lediglich immer nur „das Hertze Jesu Christi“ gesucht, doch „in solchem meinem gar ernstlichen Suchen und Begehren […] ist mir die Pforte eröffnet worden, daß ich in einer Viertheil-Stunden mehr gesehen und gewust habe, als wann ich wäre viel Jahr auf hohen Schulen gewesen.“ (ep 12; 7)

Dann erst begannen die Bemühungen, diese Vision niederzuschreiben. „Im Innern sah ich es wol, als in einer grossen Tieffe, dann ich sahe hindurch als in ein Chaos, da alles inne lieget, aber seine Auswickelung war mir unmöglich.“ (ep 12; 9)

Diese Versuche dauerten 12 Jahre, dann erst begann er mit der Niederschrift der Aurora. Da dieses erste Werk 1612 begonnen wurde, können wir die genannten 12 Jahre zurückrechnen und landen für die Visions-Terminierung bei 1600. Haben wir uns den Schuster als Melancholiker vorzustellen, der 1599 Meister geworden war, eine Schuhbank erwarb, im gleichen Jahr heiratete, Anfang 1600 einen ersten Sohn bekam und in dem gleichen Jahr das Haus am Neiße-Ufer erwarb? Und dann, inmitten dieser Erfolge im sozialen Status, eine Vision gehabt hat, wie aus einer anderen Welt? Über diese Daten oder umgekehrt über Symptome einer Melancholie in seinem Leben erfahren wir in dem Brief nichts, als wenn er 1621, mit einem Abstand von 21 Jahren die vergangenen bürgerlichen Erfolgsjahre wegschieben wollte.

„Es war wol ein feuriger Trieb alda, aber ohne Vorwissen dieses Werckes, welcher im Autor verborgen gelegen, als ein Mysterium, welches GOttes Geist gerühret, davon eine solche Lust zu schreiben entstanden. (…)“ (Briefe 10; 3)

Sie wissen, dass ihm aufgrund der Aurora 1613 ein Schreibverbot erteilt worden ist. Meine Frage wäre: Wie verhält sich ein Mensch, der zu schreiben begonnen hat, nachdem er die Melancholie überwunden hatte, um eben der eigenen Zeit Dinge mitzuteilen, die von höchster religiöser Wichtigkeit waren, in dessen Namen Mitteleuropa soeben einen Krieg begonnen hat? Muss Böhme bis zu dem Zeitpunkt, da er wieder zu schreiben begonnen hat, 1618, nicht unter einer Hochspannung gestanden haben? Böhme berichtet selbst über diese Zeit:

 „dann mir auch zugleich das Gnaden-Licht eine ziemliche Zeit entzogen ward und glamm in mir als ein verborgen Feuer, daß also Angst in mir war, von außen Spott, von innen ein feuriger Trieb […]“ (ep12;13)

Die rein quantitative Schreibleistung von rund 4.000 Seiten in fünf Jahren, umgerechnet 600 Seiten pro Jahr, das sind 50 Seiten jeden Monat, neben einer unsteten Reisetätigkeit, Vorstufen und Notizen zu den Werken nicht gerechnet, ist bemerkenswert und gibt dem Eindruck recht, dass hier ein Entfesselter schrieb. Während die Erkenntnisaneignung mit geistig religiösen Begriffen belegt wird, so wird das Schreiben mit Worten wie Trieb, Lust oder Platzregen bedacht.

Das Verb vom Durchbrechen scheint mir dabei mit einer psychischen Energie aufgeladen. In den Metaphern der Philosophiegeschichte scheint es eine wichtige Rolle zu spielen. so heißt es bei Meister Eckhart in seinem Traktat „Von den unterscheidungen“:

„Dieser [göttlich hingegebene] Mensch findet weit mehr Lob vor Gott, weil er alle Dinge als göttlich und höher erfasst, denn sie in sich selbst sind, Traun, dazu gehört Eifer und Hingabe und ein genaues Achten auf des Menschen Inneres und ein waches, wahres, besonnenes, wirkliches Wissen darum, worauf das Gemüt gestellt ist mitten in den Dingen und unter den Leuten. Dies kann der Mensch nicht durch Fliehen lernen, indem er vor den Dingen flüchtet und sich äußerlich in die Einsamkeit kehrt; er muß vielmehr eine innere Einsamkeit lernen, wo und bei wem er auch sei. Er muß lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen und den kraftvoll in einer wesenhaften Weise,in sich hineinbilden zu können, Vergleichsweise so wie einer, der schreiben lernen will. Fürwahr, soll er die Kunst beherrschen, so muß er sich viel und oft in dieser Tätigkeit üben , wie sauer und schwer es ihm auch werde und wie unmöglich es ihn dünke: will er’s nur fleißig üben und oft, so lernt er’s doch und eignet sich die Kunst an. Fürwahr, zuerst muß er seine Gedanken auf jeden einzelnen Buchstaben richten und sich den sehr fest einprägen, Späterhin, wenn er dann die Kunst beherrscht, so bedarf er der Bildvorstellung und der Überlegung gar nicht mehr, und dann schreibt er unbefangen und frei, und ebenso ist es auch, wenn es sich um Fiedeln oder irgendwelche Verrichtungen handelt, die aus seinem Können geschehen sollen.“

Die beschriebenen Selbstdeutungen und Handlungsweisen haben mit unseren modernen Termini der Psychologie oder Psychoanalyse nichts zu tun, obwohl manches darin sich dafür anbieten könnte. Aber viel zu bewusst wird gesteuert, werden die Zusammenhänge formuliert. Jacob Böhme war nicht an einer Melancholie erkrankt, sondern er hat das, was er tun wollte, mit Begriffen seiner Zeit gerechtfertigt. Dies bestätigt uns schließlich auch, was damals an Heilung von der Melancholie möglich schien. So steht es in Robert Burtons „Anatomy of Melancholy“, 1621, dass einer der ersten Gründe für Melancholie Gott sein kann. Die Therapie könne in diesen Fällen auch nur in der Kompetenz dessen liegen, der die Melancholie verantwortet:

„Paracelsus ist der Meinung, solche spirituellen Leiden (wie er sie nennt) könnten auch nicht anders als auf geistliche Weise kuriert werden.“ (S. 200)

Genau daran hat Böhme sich gehalten. Im Rahmen seines geistigen Bezugssystems hat er, vielleicht unter Anleitung anderer, genauso gehandelt, wie es seine eigene Philosophie ihm rät: eine Heilung als Heiligung.

Ich hatte Sie gebeten, sich das Planetenpaar Saturn und Jupiter zu merken. Von ihm war ja öfter die Rede.

Was bedeutet es nun aber, dass Saturn und Jupiter nicht in einem Jahr um sie Sonne reisen können, sondern wegen ihrer Entfernung zur Sonne eine längere Umlauf-Zeit benötigen? Eigentlich nichts. An keiner Stelle seines Werkes kommt Böhme  auf die langen Orbits von Jupiter und Saturn wieder zu sprechen. Die sieben Räder seiner Qualitätenlehre haben wohl alle den gleichen Kreisumfang. Sehen wir uns die ersten beiden Qualitäten an, so steht die erste für Saturn, die Finsternis, den Zorn, für den Vater, die zweite steht für den Sohn mit seinem Angst-Stachel, für das Licht. In der Geometrie seiner Systeme stehen die beiden Figuren auch für das 1. Und für das 2. der drei Prinzipien, Dunkelheit und Licht, Saturn und Jupiter.

Wer über manche Dinge nicht in Melancholie fällt, der hat keine, um sie zu überwinden.