Friedrich Nietzsche und seine Gestalten

Dionysos – freier Geist – Zarathustra: Friedrich Nietzsche und seine Gestalten. Eine Einführung. Vortrag gehalten am 20.06.2020 in Görlitz

Friedrich Nietzsche – der Name, der seit rund 150 Jahren in Augenhöhe mit dem Hegels, Kants, Schopenhauers oder Karl Marx genannt wird, und in dieser Reihe der jüngste ist, hat immer wieder eine Welle der Faszination zwischen Ablehnung und Zustimmung ausgelöst, mehrmals in Deutschland, mehrmals in Frankreich, mehrmals in Italien, mit einer kaum überschaubaren Deutungsindustrie, die unsere Bibliotheken füllen, nicht, weil es so viel zu entdecken, sondern weil es  so viel zu streiten gibt, dieser, wie Gottfried Benn sagt, „weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche“ prägte viele Generationen, ein Philosoph der Jugend, dessen Zarathustra die Soldaten im Tornister bei sich trugen, als sie in den Ersten der Weltkriege hineinliefen, die Nietzsche selbst noch vorhersagte. Seine ästhetische Faszination berührte Autoren wie Hofmannsthal, Thomas und Heinrich Mann, Alfred Döblin, Robert Musil, den gesamten Expressionismus, Ernst Jünger, Stefan George, Philosophen wie Camus, Sartre, wie Heidegger, Jaspers, später Adorno, Benjamin, der eine Wirkung auch bei jenen ausübte, die einen Einfluss eher verbargen, etwa Bertolt Brecht, Sigmund Freud, sogar Wilhelm Reich, der zustimmend gelesen wurde von jüdischen Philosophen, Martin Buber, Gustav Landauer, Franz Rosenzweig. –

Ein Philosoph des Unterganges, der – wie der linke Theoretiker Georg Lukácz sagte, als Zerstörer der Vernunft der Philosoph des Imperialismus war und die strikte Ablehnung der Linken genoss, eine völlige Überschätzung dessen, was ein einzelner Philosoph überhaupt leisten kann, der tatsächlich auch auf Faschisten eine starke Anziehungskraft ausübte. Und dann, als viele nach dem Zweiten Weltkrieg meinten, der Fall Nietzsche habe sich erledigt, als eine gewisse Versachlichung die Fälschungen im Nachlass offenlegte, eine Aufklärungsarbeit, die sich mit dem Namen Karl Schlechta verbindet, da löste sich in den 80er Jahren eine europaweite, vielleicht noch die größte Rezeptionswelle überhaupt, die sich mit Namen wie Michel Foucault, Jaques Lacan, Gille Deleuze, den italienischen Herausgebern der historisch-kritischen Ausgabe, Colli und Montinari, verband, mit Schlagworten wie Antipsychiatrie, Subversion und Subkultur. Wie immer wir dazu stehen und welche Bewertungen wir vornehmen: Dass Philosophie, dass ein einzelner Autor eine derartige Welle an Aufmerksamkeit gefunden hat, ist fast noch interessanter als die changierenden Meinungen zwischen Zustimmung und Ablehnung.

Nach solch einer Wirkung sah es zu Anfang nicht aus:

1844 geboren, war er der Sohn eines früh gestorbenen Pfarrers in Röcken bei Lützen, einem Dörf-chen zwischen Leipzig und Naumburg, wuchs im Haushalt der Mutter und der jüngeren Schwester auf, die beide die wichtigsten Personen in seinem Leben geblieben waren, sowohl in seinen gesunden Jahren wie auch in seiner Erkrankung am Ende.

Er bekam früh ein Stipendium zum Besuch des Internats Schulpforta zwischen Bad Kösen und Naumburg an der Saale gelegen, kränkelte oft, studierte zunächst in Bonn Theologie und Altphilologie, er wechselte nach Leipzig, wo er nur noch Altphilologie studierte, latein, lieber noch griechisch. Er absolvierte einen einjährigen Dienst bei der Kavallerie, hatte aber einen Reitunfall und beendete den Dienst. Das Reiten überforderte ihn und er rief, im Manöver unter einem Pferd versteckt, „Schopenhauer hilf!“ (Brief an E. Rohde 1870)

 Und Schopenhauer half ihm tatsächlich: Nachdem Nietzsche zum Studium nach Leipzig wechselte, lernte er Richard Wagner persönlich kennen, der in jener Zeit auch Schopenhauer las. Der junge Privatgelehrte wurde mit sensationellen 25 Jahren, 1869, Professor der Altphilologie in Basel. Dort verkehrte er mit Jacob Burckhardt, der auch Schopenhauer las, dessen Einfluss auf Nietzsche ich betonen möchte. Mit Schweizer Neutralität, gleichsam von hohen Bergen der Wahrheit herab, sah er auf die Tragödien der Weltgeschichte und fand die Idee des Fortschritts im Allgemeinen „höchst lächerlich“. Nietzsche saß als junger Mann und Kollege in jener Vorlesung Burckhardts, die später als „Weltgeschichtliche  Betrachtungen“ berühmt wurde: Nüchterne, negative, kalte Urteile über alles, was nach Idealen, Glauben, Optimismus aussah, und Nietzsche hörte bei Burckhardt Sätze, die die Macht als Prinzip der Geschichte beschreiben wie kaum zuvor bei einem Kultur-Historiker. Jacob Burckhardt wurde im gleichen Jahr geboren wie Karl Marx, 1818, zwei Antipoden einer Generation, die Geschichte und Philosophie auf Materialismus gegründet haben. Nietzsche vergisst Jacob Burckhardt später nie mehr, buhlt um seine Freundschaft, der seinerseits ihn allerdings nur mit wohldosierter Kollegialität an sich heranließ und eine gewisse Distanz gegen ihn wahrte. Die allerletzten Briefe Nietzsches, bereits im Wahn geschrieben, sind eigentlich ergreifende Hilferufe an den alten Basler Mentor gewesen.

Ein dritter Name in diesem Zusammenhang wäre Friedrich Albert Lange mit seinem Werk „Geschichte des Materialismus“, das Nietzsche bereits 1866, gleich nach dem Erscheinens 1865, begeistert gelesen hat und dessen Einfluss ebenfalls nicht unterschätzt werden darf. Auf Lange komme ich noch einmal zu sprechen.

Der Philosoph Nietzsche ist ohne seine Krankheiten nicht zu denken. Es begannen 1876 mehrere Jahre unter starken Leiden, Kopfschmerzen, vielleicht schon der Beginn der neurologischen Erkrankung, Nietzsche war nahe daran, sein Leben aufzugeben, bis er 1879  bereits mit 35 Jahren die Professur aus gesundheitlichen Gründen niederlegen musste und lebte von einer großzügigen Pensionsregelung der Stadt Basel. Gesundheit, Reisen, ein innerer Drang zum Schreiben prägten seine Arbeitsweise und seinen philosophischen Fragmentarismus, seine Aphoristik. Dass er ab 1876 und recht eigentlich auch schon vorher Philosophie nicht im akademischen Standard betrieb, zeigen uns schon seine Titel, die er für seine Werke wählte: Die fröhliche Wissenschaft, Also sprach Zarathustra, Der Antichrist oder — Götzendämmerung, Untertitel: Wie man mit dem Hammer philosophiert.

Die Werke zwischen 1878 und Januar 1889, dem Monat seines Zusammenbruchs in Turin, wo er auf offener Straße ein Pferd umarmte, das unbotmäßig gepeitscht wurde, unterliegen Schwankungen, die ihm seine Gesundheit zumuteten (Erich Podach, Karl Jaspers).

Nietzsches Gesamtwerk können wir in drei Phasen einteilen, grob gesagt, denen jeweils weniger ein philosophisches Thema als vielmehr ein Mythos, eine Gestalt zugeordnet werden kann, die zunächst recht unphilosophisch anmutet, aber bei näherem Hinsehen wie eine Allegorie die Grundgedanken oder Stimmungen in sich verkörpert. Es sind gleichzeitig die drei Figuren, die ich im Folgenden als Türwächter zu Nietzsches Philosophie um Einlass bitten möchte.

 Erstens: Dionysos – oder das Dionysische – herrscht programmatisch in der Schrift von der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872).

Zweitens: Der freie Geist – programmatisch das erste Mal in Menschliches Allzumenschliches erwähnt, das Werk heißt denn auch im Untertitel: ein Buch für freie Geister.

Drittens: Also sprach Zarathustra, das legendäre und berühmteste Werk, das wir aber nicht verpflichtet sind für sein bestes Werk zu halten.

Wichtig ist, dass diese drei Gestalten sich nicht ablösen, nicht wieder verschwinden, sondern sie bleiben bis zum Schluss ihm erhalten: noch die letzten Briefe, schon in der Krankheit verfasst, unterzeichnet ein „Dionysos“, der spät noch Dithyramben schreibt, ekstase-performative Gedichte, deren Form und Bezeichnung aus der griechischen Antike stammen. Als Dionysos schrieb er Briefe an seine Ariadne, die der Gott in der griechischen Mythologie auf der Insel Naxos zu sich nahm, denn sie klagte darüber, dass Theseus, der Bezwinger des Minotauros, sie auf Naxos aussetzte. Cosima Wagner war die Empfängerin dieser Briefe.

Freie Geister – oder, nicht ganz das gleiche meinend – „Freigeister“ werden auch nach dem Zarathustra mit der umarmenden Geste eines Wir-Gefühls angesprochen, also in Jenseits von Gut und Böse, im Antichrist.

Es handelt sich bei Zarathustra und Dionysos zunächst um Gestalten von ästhetischem Charakter. Wie ist das gemeint? Hier müssen wir etwas tiefer in den Zusammenhang von Ästhetik und Philosophie einsteigen. Von hier aus nimmt Nietzsches Gedankenwelt auch ihren Anfang und, wie wir sehen werden, auch ihr Ende. Beide haben ein besonderes Verhältnis zueinander, bei dem die Ästhetik zugleich Thema zum und Form des Philosophierens darstellt. Philosophie spricht nicht nur über Ästhetik, also über das, was Kunst sei, ihre Gattungen, was Kunst mit unserer Wahrnehmung zu tun hat, welche Aufgabe Kunst und Medien haben, nein mehr noch: Sie bildet sich in Kunstwerken ab, wird darin auf die Probe gestellt, zerlegt oder bestätigt. So können Romanautoren eben selbst philosophieren, oder Dramatiker Thesen auf die Bühne stellen, auch um dort die Philosophie einer Art Stresstest auszusetzen, wie wohl Kleist es mit derjenigen Kants versucht hat. Und mehr noch: Die Frage der eigenen Form, in der die Gedanken sich mitteilen, ist bereits eine ästhetische Thematik. Seit Nietzsche macht sich die Philosophie über die eigene Ästhetik ihres Tuns Gedanken.

Wir können diese Differenzierungen folgendermaßen zusammen fassen: Das Verhältnis zwischen Ästhetik und Philosophie beschreibt erstens den normativen Diskurs, was Kunst und ihre Gattungen sei,

zweitens, Philosophie bildet sich in Kunstwerken ab, drittens, die Formen des Philosophierens sind selber ästhetische. —– Und nun steigern wir das Verhältnis zwischen Philosophie und Ästhetik und sagen:

 viertens nun: das Ästhetische wird zu dem, um dessentwillen wir überhaupt philosophieren, weil das Ästhetische sinngebend ist, lebenssinn-gebend, „denn“, Zitat Nietzsche,

„nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ (S. 47)

So heißt es in der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.“ Höher können wir mit der Ästhetik nicht steigen, als mit der These, sie rechtfertige die Welt. Wie ist das gemeint?  Nun, zunächst so, wie es da steht: Das Leben ist sinnlos ohne Kunst. Punkt. Kann man denken. Doch die umfänglichen Lebensbereiche, in denen Verantwortung und weniger schöne Dinge unsere Aufmerksamkeit erfordern, wirken dagegen unbequem. Man hat Nietzsche einen Ästhetizisten genannt, einen Feingeist, der das l’art pour l’art, die Kunst sei nur für die Kunst da, dem zeitgenössischen Ästhetizismus und dem verfallssüchtigen fin de siècle abgeschaut habe.  Lassen Sie uns das kurz prüfen.

Ich habe eben eine kleine Ungenauigkeit zugelassen und als Kunst übersetzt, was Nietzsche aber als „ästhetisches Phänomen“ bezeichnet hat: Dasein und Welt. Nietzsches früher Text „über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ 1873, zu Lebzeiten nicht veröffentlicht, sagt es deutlich: Wahrheit gibt es nicht, es gibt nur das Wahre, das wir aus unserer Perspektive sehen: „Gegen die reine folgenlose Erkenntnis ist der Mensch gleichgültig.“ (S. 878)

Das Ästhetische aber an den Dingen ist das, was sie mit uns zu tun haben. Im 19. Jahrhundert wurden ästhetische Gattungen zu existentiellen Ereignissen umdefiniert und erweitert.  Aus der Tragödie wurde DAS Tragische auch außerhalb der Kunstform (vgl. Peter Szondi). Schopenhauers Pessimismus findet in der griechischen Tragödie seine antike Entsprechung, und Nietzsche sah sich hier als sein Schüler und Vollender für das Verständnis der Antike. Es ist im Grunde eine erste Medientheorie, wenn das Leben und die Kunst derart zusammenrücken. Das können wir uns bei der Tragödie mit dem Chor, mit dem Publikum jedoch nur in einer gewissen Pluralität vorstellen, bei der Kunst auch massenpsychologische Momente besitzt.

 Und an dieser Stelle sagt nun Nietzsche:

„Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen Geisterschar umringt zu sehen, mit der sie sich innerlich eins weiss.“ (S. 61)  Und weiter:

„Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der ‚Freude‘ in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern.“ (S. 29)

Nach diesem Geburtszitat über das Dionysische zieht sich bis tief ins 20. Jahrhundert durch das ästhetische Europa die Rede von Dionysos, dem Gott des Rausches, auch des Wahns, schlichtweg von Ich-Auflösungen. An den Dionysien, griechischen Festtagen, wurden Tragödien und Satyrstücke aufgeführt, bei denen man – auch schon vor Nietzsche – annahm, dass sie ursprünglich aus Chorgesang bestanden, dann einen Dialog mit einer Hauptfigur einführten, bis die klassische Tragödienhandlung aus mehreren Rollen, wie wir sie kennen, auf uns gekommen ist. Die Figuren der Tragödie hätten also mit der Chor-Musik angefangen und einen Individuationsprozess zum Sprechtheater durchlaufen.

Dionysos steht für eine Macht, der Masse genauso wie einem Individuum das Gefühl eines aesthetischen Rausches zu vermitteln. Hier wird die Ästhetik kollektiver Einheitserlebnisse und ihrer Rauschzustände echt beschrieben und geahnt, wenngleich appliziert auf die Antike. Nietzsche hatte seinen Freund und Förderer Richard Wagner vor Augen, der mit seiner Musik so etwas wie eine Geburt der Oper aus dem Geist ästhetischer Phänomene umgesetzt hat, was er selbst, auch hier die Einzelgattungen der Kunst übersteigend, Gesamtkunstwerk nannte.

Nehmen Sie den Walkürenritt oder den Trauermarsch aus der Götterdämmerung, und stellen Sie sich Massenaufmärsche vor, dann ahnen Sie historisch rückblickend etwas von dem Unheimlichen des Dionysos, der Gott, den Nietzsche zeichnete, als er noch Parteigänger Wagners war. Nietzsches spätes Wort vom Willen zur Macht ist – aus meiner Sicht – die Folge seines frühen Themas vom Dionysischen. Das Gegenmodell zum Dionysischen ist laut Nietzsche das Apollinische: Dionysos und Apoll stehen für zwei grundsätzliche Prinzipien, Nietzsche sagt „Kunsttriebe“: die entgrenzende Rauscherfahrung mit der Möglichkeit einer unio mystica im Dionysischen einerseits, und die Kunst, die das sogenannte Prinzipium individuationis vertritt, die Vereinzelung, etwa jede Bildkunst, Reliefkunst, Statuen. Sokrates als die Kunstfigur in den Dialogen des Platon ist apollinisch: wissenschaftlich, mit Vernunft Wahrheit suchend und sie nie findend. Nietzsche hat Sokrates nie gemocht.

Über die Plausibilität der Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ ist in der Altphilologie viel gestritten worden. Einem Gott der Griechen allen Ernstes den Status einer wissenschaftlichen Kategorie zu geben, konnte nur den Widerspruch der Fachkollegen erregen. Aber das geht uns hier nichts an. Schlimmsten Falles handelt es sich um einen Fehlgriff in der Medienwahl. Nicht eine Habilitationsschrift im Fach Altphilologie hätte Nietzsche sich für eine theoretische Huldigung Wagners wählen sollen. Aber das Phänomen der Massen-Erfahrung lange vor seiner vollen Entfaltung in den Aufmärschen der totalitären Ideologien, diese Ahnung von etwas Unheimlichen, das im Dionysischen sich ankündigt und dessen Nietzsche in den Folgejahren nicht Herr wurde, das ist ein jugendlicher Geniestreich, an dessen hohes Sprachniveau, an dessen Subtilität und sprachliche Schönheit keine seiner Schriften danach herangekommen ist.

Ich trete jetzt einen Schritt vor und wage eine These, zu der mich die Beobachtung berechtigt, dass es mehr Kontinuitäten zwischen dem Frühwerk und den späteren Phasen gebe, als manche Kommentare, als Nietzsche selbst meint. Die Geburt der Tragödie ist ein schein-religiöses Werk, das seine Dementierung bereits in sich trägt.

„[…] Denn dies ist die Art“, schreibt er, „wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisiert werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdigkeit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt.“ (S. 74, Nr. 10)

Hier wird über die Antike gesprochen, aber gemeint ist auch das Christentum. Wie mit einem Scharnier lässt sich in solchen Passagen die Tür öffnen zu dem großen Rätsel, wie aus einem einzigen Menschen so unterschiedliche Konzepte wie der Freigeist und ein Zarathustra entspringen können. Dionysos steht für einen religiösen Untergrund, den ein Mystiker nicht besser hätte ausdrücken können als Nietzsche es getan hat.

Es greift zu kurz, wollten wir, wie oft geschehen, Schopenhauers Hauptthese von der Welt als Wille und Vorstellung in Nietzsches Tragödienschrift sehen, demzufolge das Dionysische den Willen, das Apollinische die Vorstellung repräsentiere. Das sind nur oberflächliche Gerüste, Geländer, an denen man sich festhalten kann. Auch an den Pessimismus glaube ich nicht, selbst wenn es anfangs so heißt bei Nietzsche – seine Identifikation bis zum Lebens-Ende mit Dionysos steht stattdessen unter dem Zeichen einer Schwermut. Wenn nämlich die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist, so wäre Pessimismus als gedankliche Haltung DEM untergeordnet, was auch ästhetisch nur sich vermittelt: Melancholie und Schwermut.

In den Jahren 1876 bis 1878 entsteht sein erstes rein philosophisches Werk, „Menschliches Allzumenschliches“, mit dem Untertitel: „Ein Buch für freie Geister.“ Was haben wir darunter zu verstehen, und wo liegen die Probleme?

Es ist nicht sein radikalstes Buch, aber auf eine sympathische Art sein bestes, besonnenstes, mit einer gewissen Gelassenheit nonchalant, aber geschrieben auf einer hohen Stilebene. Das Jahr 1876 verbindet sich für Nietzsche mit einer Lebenskrise und Veränderungen, die sich im Motiv vom „freien Geist“ auch biographisch zusammenfassen lassen.

Der freie Geist ist ein befreiter Geist. Aber der befreite Geist ist oft unfrei gegenüber dem Geist, der ihn einst gefangen hielt. Freie Geister reagieren oft aggressiv gegen alles, wovon sie sich befreiten, wovon sie sich abstießen, und das macht sie unfrei. Man staunt, wie unfrei Nietzsche auf die Religion, auf das Christentum reagiert, mit blankem Hass. Der Freigeist war noch zu Zeiten Lessings, der ein Drama mit dem Titel „Freigeist“ verfasst hat, der aufgeklärte Atheist, als Gegenthese zum Christentum. Aber ein Atheist kann genauso unfrei oder frei sein wie ein Christ. Ein freier Geist in unserem Verständnis wäre zunächst ein toleranter Geist, der geduldig gewähren lässt. Er pflegt neben der Toleranz die Originalität, das Querdenken, und drittens einen esprit fort, einen starken Geist, wie Freigeist auf französisch heißt. Der freie Geist ist nicht von Werten befreit, er ist kein Nihilist, sondern davon, dass er sich von ihnen bevormunden lässt.

Ich nehme an, dass Nietzsches Begriff vom Freigeist aus jener Zeit stammt, da er das Theologie-Studium abbrach und 1865 von Bonn nach Leipzig wechselte. Noch bevor er Wagner kennenlernte, las er mit Inbrunst die erwähnte „Geschichte des Materialismus“ von Friedrich Albert Lange, und dort finden wir nicht nur den Begriff „Freigeist“, sondern auch Ausführungen zu Epikur, ähnlich denen Nietzsches.

Wovon hat Friedrich Nietzsche sich unter dem Bild vom „freien Geist“ recht eigentlich befreit? War er selbst ein „freier Geist“? Die meisten kontextuellen Bezüge betreffen die Gegnerschaft zum Christentum, aber das ist nicht alles. Er – hat sich von Richard Wagner – ja: befreit. Er hat sich von Deutschland befreit. Nach seiner Abreise aus Bayreuth 1876 hat Nietzsche das Deutschland der Gründerjahre nie mehr betreten, bis in die letzten Jahre verbindet sein sich steigernder Hass auf Wagner mit dem auf die deutsche Reichspolitik. Aus 1888, dem Drei-Kaiser-Jahr, finden sich im Nachlass Invektive auf die Hohenzollern. Er hat sich von Schopenhauer befreit, den er in einer der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ nur noch als „Erzieher“ konzedierte. Mit einem gewissen Recht können wir ferner sagen, dass die Krankheiten Friedrich Nietzsches ihn befreit haben. Sie befreiten ihn von der beruflichen Altphilologie. Er pendelte mit intervallartigen, paroxistischen Kopfscherzen nach der Frühpensionierung zwischen Sils Maria im Ober-Engadin und verschiedenen Stätten Italiens, er war fast blind, konnte nicht lange lesen, schrieb jahrelang nur Fragmente, Sinnsprüche, also kurze, gesundheitlich zu bewältigende Abschnitte.

Epikur, Montaigne, Voltaire, Lawrence Sterne, Larochefoucauld und die sog. Französischen Moralisten, Pascal als beinahe einziger unter ihnen, dem Nietzsche sein Christentum verzeiht, das ist die Ahnengalerie der freien Geister, mit denen Nietzsche in der mittleren Werkphase Umgang pflegt. Der Aphorismus ist deren Wurfmunition. Ich gebe einige Beispiele:

 „Bosheit ist selten.- Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um boshaft zu sein.“ 85

Dass das Böse mit der Muße im Bunde steht, sagt schon das geflügelte Wort, demnach Müßiggang aller Laster Anfang sei. Durch das Nadelöhr solcher Aphorismen blickt zuweilen weniger der Philosoph auf uns, als seine Zeit, die in nutzlosen Überbleibseln adliger Schönlinge ihre überlebten Wahrheiten spricht. Oskar Wilde könnte diesen Satz gesagt haben.

 „Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.“ 391

Ob hier das moralisch Gute oder das ästhetisch Gute gemeint sei, steht dahin, doch greift bei beidem, dass das Gegenteil des Guten nicht das Böse, sondern das Schlechte sein kann. Dieser Satz Nietzsches klingt zu edel, als gebe es das Gute unabhängig von uns,

als könne nur er es erkennen.

 „Wenn der Mensch eben sehr geehrt worden ist und ein wenig gegessen hat, so ist er am mildthätigsten.“ (253)

Das wissen unsere Werbesendungen, die karitative Produkte oder Spendenaufrufe auf Zeiten zum Abendbrot platzieren, was das Essen angeht, oder nach den Nachrichten, wo uns Bilder die Welt zeigen, mit der verglichen die unsere ehrenvoll abschneidet. Der Satz klingt wie ein gemütlicher Vorläufer von Brechts Formel aus der Dreigroschenoper, demnach erst das Fressen kommt, danach die Moral.

 „Der Gewissensbiss ist, wie der Biss eines Hundes auf einen Stein, eine Dummheit.“

Dieser Satz kann nur überzeugen durch seine eingeschobene Metapher; ließen wir diese weg, so würde der Satz lauten: Der Gewissensbiss ist eine Dummheit. Aber das hat wenig Wirkung. Die Vorstellung, dass ein dummer Hund auf einen Stein beißt, schmerzt, und dadurch gewinnt der Satz an Evidenz. Wie ist es mit diesem:

 „Lukas 18, 14 verbessert: Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden.“

In der Bibel im Lukasevangelium steht:

 „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“

Durch den Tausch des kleinen Wortes „wird“ in „will“ interpretiert Nietzsche ein zentrales Argument des Christentums um in einen egoistischen Akt noch der heiligsten Märtyrer. Das Christentum macht demzufolge keine Ausnahme in den interessegeleiteten Annahmen über Wahrheit und Glauben und ist, Nietzsche zufolge,  selbst auf egoistische Motive zurück zu führen.

Die längeren Passagen, die eine maximale Länge von bis zu 3 Seiten aufweisen, wirken wie kurze Essays, die sich zu intensiven Ausführungen konnotieren.

Nehmen wir einen Absatz, in dem es um den „freien Geist“ geht. Nietzsche sagt:

 „Man nennt den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. […] Übrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolg. […] er fordert Gründe, die Andern Glauben.“ (S. 189f.)

Der Freigeist, das ist mir wichtig, definiert sich ex negativo zu seiner sozialen Prägung. Damit kann er zunächst inhaltlich völlig verschiedene Positionen einnehmen. Soziologisch interessant an der These ist der Generationen-Unterschied, der darin mitdefiniert scheint. Der Freigeist verlangt Gründe, wo die Anderen Glauben fordern. Hierin geht das mögliche Lebensmodell einer freigeistigen Religiosität wohl nicht mehr auf, denn Religion ohne Glaubensbereitschaft kann es genauso wenig geben wie eine Begründung religiöser Gefühle. Der freie Geist versteht sich auch als biographisch ungebundener Geist. Jede Philosophie ist eine Philosophie des Lebensalters, sagt Nietzsche, und schreibt:

 „Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn anleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten, als den Andersdenkenden.“ (MR 297)

Das atmet schon freiere Luft.

Das 1881 folgende Buch trägt den Titel „Morgenröte“. Dessen Gleichklang, nebenbei gesagt, mit der ersten Schrift Jacob Böhmes halte ich für Zufall, und wenn nicht, für einen ironischen Kontrapunkt: Böhmes Titel Morgenröthe bezieht sich auf den Tagesanbruch nach Jakobs Kampf mit dem Engel, also ein Bibelbezug, während Nietzsche seiner „Morgenröthe“ ein Zitat als Motto voranstellt, das aus dem Rigveda, also einem indischen Kontext stammt, den Nietzsche von seinem Freund Paul Deussen bezog, dem ersten Präsidenten der Schopenhauer-Gesellschaft und Indien-Kenner. Deussen, auch ein Absolvent der Eliteschule Schulpforta, hat sich aber intensiv mit Jacob Böhme beschäftigt.  Ein Bezug liegt also nahe, das nur nebenbei.

In Nietzsches „Morgenröte“ nun finden sich erste Zeichen eines höheren Sendungsbewusstseins. Er widmet sich hier politischen und sozialen Fragen, und ich gehe auf eine ein, die mir sehr am Herzen liegt: Der fragliche Antisemitismus, dem man Nietzsche nachsagte. Er schreibt:

„Zu den Schauspielen, auf welche uns das nächste Jahrhundert einladet, gehört die Entscheidung im Schicksale der europäischen Juden. […] Sie wissen selber am besten, dass an eine Eroberung Europa’s und an irgend welche Gewaltsamkeit für sie nicht zu denken ist: wohl aber, dass Europa irgendwann einmal wie eine völlig reife Frucht ihnen in die Hände fallen dürfte, welche sich ihr nur leicht entgegenstreckt. […] Dann werden sie die Erfinder und Wegweiser der Europäer heißen und nicht mehr deren Scham beleidigen. […] Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermögen und vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europa’s verwandelt haben wird: dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auserwählten Volkes freuen darf, – und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freun!“ (S. 182)

Kaum können wir entscheiden, was ergreifender ist: die große Sympathie oder der große freundliche Irrtum über das, was im 20. Jahrhundert wirklich geschehen wird. Noch zuvor unter dem Einfluss Wagners finden sich bei Nietzsche in den Briefen durchaus antisemitische Bemerkungen. In seinen letzten Werken vor dem Zusammenbruch zählt er ausdrücklich Wagners Antisemitismus zu den Motiven, die Welt von Bayreuth abzulehnen.

In der „Fröhlichen Wissenschaft“ von 1882 wandelt sich der Freigeist zum Propheten, der hier die Botschaften erhält, die er kurze Zeit danach als Zarathustra verbreiten wird. In der „Fröhlichen Wissenschaft“ steht der berühmte Satz „Gott ist tot“ mit dem Zusatz „und wir haben ihn getötet“ (Nr. 125).

Wir müssen uns die Situation vorstellen: Da geht ein sehr kranker Mann, der kaum noch sehen kann, durch die Bergwelt des Oberengadin, er hat Bücher geschrieben, die außer von Freunden kaum gelesen werden, ein Frührentner mit kleiner Pension, winters in Italien, sommers in den Bergen, eine Stimmung, in der die Luft vibriert, nach dem Buch, das unseren Blick auf die Antike veränderte, wie noch Winckelmann ihn prägte. Der von edler Einfalt und stiller Größe sprach, wenn er die Griechen meinte und ihre Statuen, dieser Inbegriff apollinischer Klassik und Unbeweglichkeit. In Basel, der ordentlichen Kaufmannsstadt, hat er unter der freundschaftlichen Zuwendung Jacob Burckhardts die Antike uminterpretiert als eine wilde und zugleich geistvolle Epoche, in der Dionysos, der rauschhafte Gott, in den Theatern gebändigt wurde, als die vorsokratischen Philosophen die Geschichte der freien Geister wie Lemuren vor sich hintrieben, ein Blick auf die Antike wie in den Abgrund der Geschichte, bei der sich die Frage stellte, die erst das 20. Jahrhundert so brutal beantwortete: ob nicht Kampf und Krieg der Motor allen Fortschritts sei, wie Heraklit sagte. Dieser einsame Wanderer, der mit seinem Konzept eines freien Geistes aber auch seine Einsamkeit schönredete, das religiöse Gefühl psychologisch erklärte und nie, niemals in seinem Werk Freude oder Schadenfreude empfand an dem, was er zersetzte, sondern diese fallenden Werte als Nihilismus und Dekadenz beschrieb, übrigens nur als einer seiner Epoche, die an vielen Ecken und Enden Europas mit dem Begriff Nihilismus hantierte, und der sich um den Preis der Schülerschaft zu Schopenhauer vom Pessimisten – nein: nicht zum Optimisten entwickelte, aber sich zum amor fati, zur Liebe des Schicksals bekannte. In dieser Situation entstand Zarathustra. Der Name fällt zum ersten Mal in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (Nr. 343). Diese Figur eines persischen Gelehrten hat mit dem, was Nietzsche unter seinem Namen veranstaltete, eher wenig zu tun.

„In der That, wir Philosophen und ‚freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ‚alte Gott todt‘ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‚offenes Meer‘.“( 343)

Diese Totenfeier trägt jemanden zu Grabe, der nie gelebt hat. Dass Nietzsche den Tod Gottes aber feiert, als HABE er gelebt, kennzeichnet die hohe Emotionalität, die sich mit der Diagnose verbindet, den Phantomschmerzen, die er erzeugen wird, und das Gefühl der Befreiung.

In Rapallo 1883 entsteht innerhalb von 10 Tagen der 1.Teil des Zarathustra, der auch noch von einem kleinen Publikum gelesen wurde, Ende 1884 entsteht der 4. teil, in nur vierzig privat gedruckten Exemplaren. Die gefeierte Einsamkeit des freien Geistes wirkte sich auch auf die Zahl der Leser aus.

In einer kleinen Zitatrevue lassen sich zwar beliebig viele, aber doch inhaltlich übereinstimmende Aussagen und Losungen, zu denen hier die Aphorismen geworden sind, aneinanderreihen.

Zarathustra ist der Prophet des Übermenschen. Mehrmals heißt es, gleich zu Anfang des Werkes: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden.“ (S. 14)

Dieses Motiv vom Übermenschen, so oft es diskutiert wurde, bleibt nicht mehr als ein Bild, zu dem wir Assoziationen haben können, aber der Übermensch ist kein Ich-Ideal Nietzsches, wie Dionysos oder der freie Geist, mehr eine Vision als ein für freie Geister diskutabler Begriff. Das nächste Motiv kennen Sie:

„Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht.“ (S. 86)

Es entschuldigt Nietzsche keinesfalls, dass diesen Satz eine alte, von ihrem Geschlecht enttäuschte Frau spricht. Dieser Satz kann nur im Kontext seiner Haltung – nein, nicht entschuldigt, aber verständlich werden. Das wussten die Frauen um ihn, zu denen ausgewiesene emanzipierte Frauenrechtlerinnen gehörten, die womöglich längst freiere Geister waren, als er ihnen erklären wollte, wie man einer wird. Die Zumutungen der Schwester Elisabeth Förster, das Verwirrspiel, das Lou Salomé mit ihm und seinem Freund Paul Rée veranstaltete, und daneben steht dieser Satz, den ich als eine Kompensation lese:

 „So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den Einen, gebärtüchtig das Andre, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen. Und verloren sei uns der Tag, wo nicht Ein Mal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht ein Gelächter gab!“ (S. 264).

Der Prophet Zarathustra ruft zur Freude auf, so müssen wir uns Nietzsches Wunsch nach Kraft und Gesundheit vorstellen. Freude ist ein gern unterschätzter Begriff in der Sehnsuchtsstruktur Friedrich Nietzsches. Er sagt an anderer Stelle: „Wer viel Freude hat, der muss ein guter Mensch sein.“ Oder: „Mitfreude, nicht Mitleid, macht den Freund.“ Der Philosoph der Freude, der von allen der Antike ihm am nächsten steht, ist Epikur (341-270 v.Chr.), als Gott der Freude gilt Dionysos. Das Tanzen drückt diese Freude aus, wir können uns mit einer gewissen Ergriffenheit vorstellen, wie der kranke, nach vorn gebeugte Mann durch die Wälder um Sils Maria wandert, mit den Beinen stotternd wandelt, und im Zarathustra notiert:

 „Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich.“ (S. 50) Hüten wir uns, solche Sätze nicht für Philosophie zu halten. Sie sind hohe Philosophie, berghohe, die trotz der Demontage des Christentums uns davon berichten, welch Ausnahmezustände mystischer Art, eine Formulierung, die Nietzsche ablehnen würde, andern gerne konzediert werden.  Unmissverständlich aktuell appelliert Zarathustra an uns:

 „Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntnis diene dem Sinn der Erde!“ (S. 99 und S. 14)

Freude ist ein Indikator der Gesundheit. Es klingt nach dem Credo des Wanderarztes Paracelsus, wenn Nietzsche feststellt: „Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann.“ (S. 147) Bei Paracelsus heißt es sinngleich: „Der wäre nicht eines andern hörig, der auf sich selber hören kann.“ Dass wir dieser Haltung einer Gesundheits-Philosophie schwerwiegende Fragen stellen können, liegt auf der Hand. Doch mit welchem Recht stellen wir sie ihm, da wir selbst oft die Antwort nicht wissen? Mag es nicht vorauseilendem Gehorsam gleichen, wenn wir stets sogleich, kaum dass da jemand voller Freude und glücklich ist, die Vernunft mit strenger Miene wie einen Spielverderber sagen lassen, das reiche aber nicht zu einem kategorischen Imperativ, da fehlt die Pflicht zu helfen, wenn es andern schlechter geht, wo bleibt die Moral, wo bleibt die Menschenliebe, wo bleibt die political correctness? Hier, ruft Nietzsche, hier ist die Moral, nach der die Menschen ohnehin und insgeheim handeln und denken:

 „Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage euch: Was fällt, das soll man auch noch stossen.“ (S. 261)

Aufschlussreich ist die vorgeschaltete Frage, dernach Zarathustra erst fragt, ob er grausam sei, um dann noch eine Steigerung all dessen zu formulieren, was zum Thema moralischer Selektion in diesem Werk zu finden ist. Die Befreiung vom Christentum ist kein Selbstzweck. Sie gibt den Blick frei auf den Eindruck, den Nietzsche in seinen Gesellschaftsanalysen gewinnt: Dass wir alle, die Staaten untereinander, die Konzerne, die Ideologen, die Sportler, die Menschen, alle, alle genau danach handeln, ob wir das wollen oder nicht, im Wettbewerb um was es auch sei – stoßen wir, was fällt. Und dennoch tun wir Gutes und können solidarisch sein, weil es unser Mensch-Sein ausmacht. Wir sagen so gerne: das ist doch „menschlich“ – aber ist es auch human? Hier sagt Nietzsche: Menschlich ist, was Menschen machen, sie vertragen sich, führen Kriege gegeneinander, sie inszenieren eine Religion, um ihre Interessen besser durchzusetzen, aber genau das ist „menschlich“, und von hier aus bezieht Nietzsches bestes Werk seinen Namen: Menschliches Allzumenschliches. (vgl. Hubert Cancik)

Wir fangen auf, was zu fallen droht, wir haben unsere gegenseitigen Hilfen, und das klingt alles sehr karitativ, und ist es auch. Aber das meint Nietzsche gar nicht. Die Dekadenz und der Nihilismus, zwei topoi jener Zeit, die  Stimmungen erzeugten, kennzeichnen das, was fällt, als zuende gehende Epochen. Die Werte einer Epoche gehen mit ihr unter, erleben eine Umwertung aller Werte, wie Nietzsche es nennt. Den Begriff „Wettbewerb“, wie man den Satz „Was fällt, das soll man auch noch stoßen“ übersetzen könnte, würde Nietzsche nicht verwenden, auch nicht den darwinistischen „Kampf ums Dasein“, seine Formel lautet: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.“ (S. 147 f.)

Zarathustra also verkündet bereits diese Formel vom Willen zur Macht, und nicht erst dem von der Schwester gefälschten Nachlass wird diese Formel als Titel des posthumen Hauptwerks zugemutet.

Die Gestalt des Zarathustra ist eine Erfindung Nietzsches, nicht aber sein pastoraler Ton. Das Werk wurde in ersten Rezensionen belustigt als „höhere Stilübung“ bezeichnet, bevor es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Millionenauflage erzielte. Es klingt wie ein neues Evangelium, liest sich wie eine langhingezogene Predigt, und in der Werkfolge bei Nietzsche steht es zwischen dem Tod Gottes, der vorher in der fröhlichen Wissenschaft festgestellt wird, und dem „Fluch auf das Christentum“ unter dem Titel „Der Antichrist“.

Was dem frühen Werk seinen Sinn gab, jenes ästhetische Phänomen, um das allein die Welt gerechtfertigt war, gab dem späten Werk seine Form als Pathos. Leidenschaft, ich zitierte das Erlebnis der Freude, wird wie selten zuvor ein tragender Grund des Philosophischen selbst. Nietzsche redet nicht über die Freude, er freut sich. Darüber kann man die Nase rümpfen, man kann feststellen, dass solch eine Haltung geeignet ist, in Widersprüche zu geraten, sobald Stimmungsumschwünge den Denkstil prägen. Ja, dreimal Ja. Aber dann muss man erklären, worin die Vorzüge rationalistischer philosophischer Architektur liegen, deren Gebäude die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht überlebt haben.

Die neurologische Erkrankung Nietzsches war danach, ab Ecce homo Ende 1888, in den Texten unübersehbar, jene erschütternde Autobiographie, die mit dem Satz endet: „Hat man mich verstanden? Dionysos gegen den Gekreuzigten.“ Ecce Homo, zu Deutsch: siehe, das ist der Mensch, stand auf dem Schild, das Pontius Pilatus dem gefolterten Jesus Christus umhing, aus menschlicher Ratlosigkeit darüber, was Menschen andern Menschen antun können, und diesen Satz gab er seiner Autobiographie zum Titel, und am Ende diese Antithese: Christus, dessen Leid in Hoffnung er zitiert, gegen Dionysos, dessen hoffnungslose Freude er teilt. Zynisch geht das Schicksal wie zur Strafe mit ihm um: In der Götzendämmerung heißt es: „Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben.“ (S. 134) Den Zustand progredienter Hirnatrophie, infolge wohl einer Syphilis, hat er nach seinem Zusammenbruch noch zehn Jahre wehrlos selbst hinnehmen müssen, als Ausstellungsstück für neugierige Gäste, denen die infame Schwester gegen Geld oder Förderzusagen einen Blick ins Krankenzimmer des Dahindämmernden gewährte. Im „Ecce Homo“, der geistigen Autobiographie, steht der Satz: „Das eine bin ich, das andere sind meine Schriften.“ Besser konnte Friedrich Nietzsche kaum demonstrieren, wie man sich selber täuscht, oder, falls der Satz zutrifft, sagen wir besser: Leben und Werk bilden Antithesen, bei der für den Leser die eine Seite nicht ohne die andere zu haben ist. Nicht so wichtig scheint mir, ob er der erste, wichtiger jedoch, dass er einer der intensivsten selbstbezüglichen Philosophen der Moderne gewesen ist. Die Widersprüche, die wir im rationalen Diskurs bei ihm schnell finden, lösen sich auf unter dem Eindruck, dass seine Schriften eine einzige große Autobiographie darstellen. Neben allen Thesen, Schlagworten, missverständlichen Gedankenexperimenten und eindeutigen Erkenntnisgewinnen greift Friedrich Nietzsche existentiell ins volle Leben.

„Ich bestehe darauf“, sagt er, rhetorisch mit dem Fuß aufstampfend, „dass man endlich aufhöre, die philosophischen Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den Philosophen zu verwechseln […].“ – Der Philosoph „muss selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und Reisender und Rätselrather und Moralist und Seher und >freier Geist< und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu können.“ (JvGuB Nr. 211)

Nietzsches zentrale Botschaft heute?

Er nannte seine Werke einmal eine „Schule des Verdachts“. Das halte ich für ein trefflich‘ Wort. Nicht nur was sich anmaßt, Unmenschlichkeiten mit irgendwelchen luftigen Ideologien oder Zeremonien oder religiösen Plattitüden zu legitimieren, auch unseren Lebensbedingungen, die, wie wir nun sehen, auf sehr dünnem Eis gebaut sein können, mit freiem Geist oder als Freigeist zu begegnen, und Gründe zu fordern, wo andere uns Glauben abnötigen, das halte ich bei Nietzsche für aktuell.

Philosophie, können wir sagen, sei ein rationales Gegenmittel gegen die Irrationalitäten des Lebens. Das Verhältnis von Irrationalismus und Rationalismus aber in sich auszutragen, und in sich die Mechanismen zulassen, mit denen heiliger Pathos entsteht, das können wir an Nietzsche erleben. Wer Nietzsche rational liest, wird Opfer seiner Irrationalität. Wer ihn irrational liest, kommt ebenfalls zu keinem Ergebnis, sondern erlebt – wie in einer Oper – wie in einem Gesamtkunstwerk – das Faszinosum dessen, was Ästhetik und Religion gleichermaßen zugrunde liegt: die Schönheit des Übermächtigen.

Meine These ist, dass der ausdrückliche Pessimismus des Frühwerks sich in eine Schwermut verwandelt, die bis zuletzt erhalten bleibt, und sogar zunimmt. DAS ist der Grund, warum Dionysos bei ihm zum Ende wiedererscheint, denn er ist die Gestalt der Schwermut. Pessimismus kann sehr rational sein, und mag seine Begründung in der Tragödie finden. In der Schwermut erleben wir DAS Tragische, das im zwanzigsten Jahrhundert als untergründige Stimmung eines über alle Himmel fliegenden technischen Fortschritts dumpf begleitet. Schwermut und Erkenntnis bilden ein Gefühl der Einsicht und der Einsamkeit. So lautet das Gondellied aus Venedig, wo Nietzsche seinen Freund Peter Gast, den Sänger, besuchte, und wo Wagner starb:

An der Brücke stand
jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang:
goldener Tropfen quoll’s
über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik —
trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus…

Meine Seele, ein Saitenspiel,
sang sich, unsichtbar berührt,
heimlich ein Gondellied dazu,
zitternd vor bunter Seligkeit.
— Hörte Jemand ihr zu?…

Lassen Sie sich von Nietzsche anregen, folgen Sie ihm nicht wie ein Parteigänger. Wenn Sie ihn zitieren, dann nur aus Liebe. Leben Sie bunt, gestalten Sie das Abenteuer Ihres einmaligen Lebens, und bleiben Sie gesund.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.