Im hessischen Marburg gab es zu der Zeit, als ich daselbst Student war, um 1980, einen alten Professor in der Germanistik, dessen Gestalt mich an einen einsamen Gelehrten des Neuzehnten Jahrhunderts erinnerte. Er hatte weißes, schütteres Haar, das ihm unter einer Baskenmütze nach hinten wegwehte, wenn er schnell, aber nach vorne gebeugt den Weg an der Lahn entlang zu den Instituten und Fachbereichen eilte. Er war seit Jahrzehnten an der Universität in der Alten Germanistik tätig, und war sehr für sich allein. Ihn kannte kaum jemand, wenige studierten bei ihm, und wie er lief, so geduckt und eilig, so floh er auch vor den Moden und Zeitläuften der Themen, der Methoden, der Debatten, der Alphatiere einer zuweilen modisch gestylten, um Zulauf buhlenden Germanistik, methodisch totgeweiht wie je.
Dieser alte Mann saß Tag für Tag vor den Texten nur fragmentarisch überlieferter mittelalterlicher Epen, die er edieren, die er rekonstruieren wollte, und als ich, in den ersten Monaten meines Studiums, einen älteren Kommilitonen fragte, wer dieser geheimnisvolle Mann sei, machte der große Augen, starrte mich an und drohte mit dem Finger, indem er sagte „Cave“. Dann lachte er und ging. Ich fand diese Reaktion ungerecht und beschloss, den Namen, der so einfach wie nichtssagend war, mir zu merken.
Als wenige Semester später ich das neue Vorlesungsverzeichnis einsah, gähnte mir eine gewisse Langeweile entgegen, die sich mit den Namen und Themen der germanistischen Klassiker verband, und ich saß gerade bei meiner Freundin in der Oberstadt, einer steilen Hanglage mit Fachwerkhäusern, vor ihrem Ofen, der noch mit Kohlen befeuert wurde, und blätterte unwirsch in dem Angebot herum. Dann stieß ich auf den Namen des alten Professors, und mein Blick blieb sofort daran hängen. Während andere Professoren sich bei den Titeln um Popularität bemühten, um möglichst viele Studenten anzuziehen, und attraktiv sein wollten, gut durchdachte Einladungen formulierten, an Marketingsprache erinnernde Einladungen, Aufreißer, Buchdeckelsprache, in denen die Namen Deleuze, Lacan, Adorno, Die Ästhetik des Widerstands, Rom Blicke, damals nicht fehlen durften, hieß die Veranstaltung dieses alten Professors lediglich: „Rilkes ‚Duineser Elegien‘ – metrisch.“ Weiter nichts.
Meine Freundin lästerte: Diese scheinheiligen Elegien eines komplizierten, verweichlichten Dichternarziss sind genau das richtige für einen, der anderen vorwirft, elitäre Themen als modisch und wichtig zu wählen. Aber, fragte sie dann: was heißt metrisch? Mir war der Zusammenhang auch nur undeutlich klar, die Metrik eines Gedichts kann man feststellen, gut, in zehn Minuten ist das erledigt. Metrik ist die Taktgabe eines Gedichts, es gibt im Prinzip drei wichtige Metren, den Jambus, den Trochäus, und den Daktylos. Mehr wusste ich zu dem Zeitpunkt auch noch nicht. Meine Freundin, eine Kunsthistorikerin, sagte, sie spüre, dass mich etwas dorthin zog, und ich müsse daher das Seminar wählen.
Es war die Zeit, in der die Hörsäle übervoll waren, Seminare mit vierzig und fünfzig Teilnehmern erstickend überbelegt waren, und so ging ich zu diesem Rilke-Seminar. Es bestand aus vier Leuten: dem geheimnisvollen alten Professor, einer Frau, die über den Feminismus bei Rilke zu promovieren plante, dem Assistenten des Professors, ein Schönling mit Goldkettchen an Arm und Hals, und mich, den jüngsten. Selbstverständlich fand das Seminar statt, das war gar keine Frage, offenbar war der Professor die geringe Anzahl von Teilnehmern in seinen Seminaren gewohnt. Wir saßen also in seinem kleinen Büro und lasen die erste Elegie…:
Wér wenn ich schríee hóerte mich dénn aus der Éngel Órdnungen?
… mit metrischer Betonung:
– v v / – v / – v v / – v v / – v – v v
Der Strich markiert eine betonte Silbe, das v soll eine Senkung, also eine unbetonte Silbe sein. Der senkrechte (Schräg-) Strich („slash“) markiert den Takt, der in diesem Beispiel überwiegend daktylisch ist (-vv), wie in den Wörtern „Órdnungen“, „Érzengel“ oder „Líebende“. Mit dieser und weiteren Betonungsregeln lasen wir eine Elegie nach der anderen, er kündigte zehn Sitzungen an, und da es sich um die zehn fertig gestellten Elegien Rilkes handelte, waren es praktischerweise eine pro Sitzung. Die Frau, die über den Feminismus zu forschen beabsichtigte, blieb ab der zweiten Elegie weg und kam nicht wieder, und wir saßen also zu dritt. Vers für Vers gingen wir durch, und sprachen nur über die Metrik, inhaltliche Erwägungen verbat der alte Professor sich unwirsch.
So lief das kleine Seminar dahin. Eines nachts passierte folgendes: Es klopfte an meiner Tür, ich bewohnte eine Mansarde in der Oberstadt in einem Fachwerkhaus, verschlafen stand ich auf und öffnete die Tür. Meine Freundin war es, die zu mir kam, was ich sehr nett fand, aber der Anlass war nicht so nett. Sie war ganz aufgebracht und erzählte hastig und verängstigt: Sie habe schon im Bett gelegen, da wäre von außen ein Rufen und Schimpfen zu hören gewesen, dann lautes unverständliches Fluchen, und sie wagte sich ans kleine Fenster, sah hinunter: zwei Männer hätten sich dort unten gegenübergestanden, der eine mit einem Messer, der andere unbewaffnet. Sie riefen in einer ihr unbekannten Sprache. Plötzlich ging der eine, ein kleinerer Mann, auf den andern los und stach ihn nieder, mehrfach stieß er die Klinge in den Leib des andern Mannes. Sie habe nicht viel erkennen können, das fahle Straßenlicht wurde von der schwarzen Nacht zerdrückt. Der Erstochene fiel auf die Pflastersteine der Fußgängerzone, und schrie, während der andere entfloh. Bereits andere, inzwischen wachgewordene Bewohner waren zur Stelle, andere eilten zu Telefonen, um Hilfe zu holen, aber umsonst. Der Erstochene lag in der Fußgängerzone unweit des Rathauses im eigenen Blut, das in Rinnsalen zwischen den Pflastersteinen hügelab lief. Meine Freundin konnte nicht allein sein und kam zu mir. Ich lenkte sie ab, indem ich davon berichtete, dass in der nächsten Woche die vierte Elegie Rilkes gelesen werden sollte, auf die ich mich vorbereitet hatte. Daher konnte ich mir dieses Zitat aus der Vierten, Vers 81, nicht verkneifen, das lautet: „Mörder sind leicht einzusehen.“ In diesem Fall war der Mörder auch leicht zu überführen.
Als ich in der folgenden Woche zur vierten Sitzung ging, stand ich vor verschlossener Tür. Der alte Professor war nicht anwesend, und ein Zettel hing an der Tür: „Das Seminar ‚Rilke – metrisch‘ muss heute leider entfallen wegen der Beerdigung meines Assistenten.“ Ich erschrak heftig, und noch heftiger, als sich herumgesprochen hatte, auch durch eine Notiz in der Zeitung, dass ebendieser Assistent der Erstochene gewesen war. Zum Hintergrund war nur so viel zu erfahren, dass der Assistent des alten Professors im Zweitstudium Sinologie studiert hatte, was daselbst noch kein Todesurteil gewesen war, aber es ging die Kunde freilich nun, dass er als Betreuer chinesischer Studenten einiges missverstanden hatte und sich um die chinesischen Studentinnen mehr und ganz anders bekümmerte als um deren Männer, was diese ihm übel nahmen. Einer dieser von ihm hintergangenen Chinesen reagierte mit asiatischer Grausamkeit, die wohl nicht viel Worte macht, und stellte ihn, stach zu und so war nach seiner Meinung die Gerechtigkeit wieder hergestellt. Somit hat der Chinese mit einem Stich die Hälfte der Seminarteilnehmer über „Rilkes Elegien – metrisch“ dahingerafft.
Als ich wiederum eine Woche später zum Büro des alten Professors ging, war er anwesend und er stellte mit stoischer Ruhe fest, dass wir ja nun alleine seien, und ich fragte ihn, ob es nun noch Sinn hat, weiterzumachen. Da drehte er sich zu mir und sagte, ohne Lächeln, ernst, nüchtern, nur den Satz: Warum soll das, was wir hier tun, nun weniger Sinn haben als vor zwei Wochen?
Da ich als einziger Student nunmehr immer zu Wort kam, war dieses Seminar eines der intensivsten meines Studiums.