Zur Tradition „Vom Vierten König“ und mein Gegenstück
Über das Libretto einer Oper von Neithard Bethke, Görlitz/Zittau
Die Legende „Vom Vierten König“ deutet bereits mit der Zahl vier an, dass es um Geschehnisse geht, bei denen es mit dreien nicht getan ist. Zu welchen dreien sich welcher vierte König gesellt, erschließt sich, wenn wir ihnen das Wort „heilig“ voranstellen. Dann wissen wir sofort, wer gemeint ist: Caspar, Melchior und Balthasar. Wenden wir uns an die Bibel, wenn wir der Frage nachgehen, wer diese drei Könige waren und warum sie „heilig“ genannt werden, erhalten wir keine eindeutige Auskunft. Bei Matthäus handelt es sich weder um Könige, noch um Heilige, noch auch sind es genau drei, schon gar nicht mit diesen Namen. Matthäus nennt sie „magoi“, Magier, Weise, heute würden wir sagen: Gelehrte, die von Herodes den Auftrag erhalten, die Geburtsstätte und die Umstände des eben geborenen Christus auszukundschaften, doch die derart überwältigt sind von dem Anblick des bedrohten Kindes, dass sie von ihrem Auftrag absehen und nicht zu Herodes zurückkehren, nicht ihm Bericht erstatten. Aufgrund dieses Sinneswandels heißen sie „heilig“. Drei sind sie, weil man aus der Zahl der Geschenke, Weihrauch, Myrrhe und Gold, auf ihre Zahl schloss. Das ist recht unsicher assoziiert. Bei den anderen Evangelisten kommen sie gar nicht erst vor. Nichts an ihnen ist heilig.
Der vierte König, dessen Legende eher jung ist, wohl aus dem neunzehnten Jahrhundert, ergänzt diejenige der drei um Dinge, die bei den drei anderen vermisst werden könnten. Er bildet, etwa in dem Roman von Edzard Schaper aus dem Jahr 1961, eine Gegenfigur zu den dreien. Der vierte König nämlich kommt nie an. Er möchte auch dem Kind helfen, aber er vertrödelt auf der Anreise seine Zeit, hilft Fremden in Not, vergibt das Gold, das er mit sich führt, an Menschen, die es nötiger haben als er. Bei Schaper geht dieser vierte König freiwillig auf eine Galeere, um für eine Kaufmannswitwe Schulden abzutragen – dreißig Jahre lang als Rudersklave!, bis er am Ende kraftlos zurückkehrt ins Heilige Land und nur noch die Kreuzigung des ebenfalls dreißigjährigen Christus erlebt. Im Unterschied zu den heiligen drei ist der vierte in der Tat zumindest anfangs ein König, nicht aus dem Morgenland, sondern aus dem Norden, vielleicht dem heutigen Russland. Er ist etwas naiv, lässt sich von anderen übertölpeln und wirkt wie eine Karikatur auf den Bibelspruch, dass selig wohl nur die geistig Armen werden.
Die Legende vom vierten König kennt freilich Varianten. Michel Tournier hat 1980 in seinem Roman „Gaspard, Melchior & Balthazar“ einen vierten König mit Namen Taor aus Mangalore, einer Stadt an der westindischen Küste erzählt, der auf dem Seeweg anreist. Während nun in dem Roman Schapers der Kindermord nicht vorkommt, ein Manko, das seine „Legende“ ad absurdum führt, weil durch diese Auslassung die Erzählung um die drei Könige ihre tragische Berechtigung verliert, hat Michel Tournier den Kindermord als Ausdruck eines tyrannischen Systems erzählt.
Eine weitere Frage betrifft die theologische Legitimität einer Bühnenfassung biblischen Geschehens, das sich im Original scheinbar anders liest als wir es in einer Inszenierung wiedergeben. Dazu zwei Punkte: Die Handlung um den Vierten König läuft fast komplett neben dem biblischen Geschehen und füllt nur dort inhaltlich auf, wo die Bibel Lücken lässt oder eine kreative Deutung zulässt oder gar erfordert. Wo dies nicht der Fall ist, wo biblische Inhalte durchaus von uns aufgegriffen werden, reichen diese Elemente bis zu den Geistlichen Dramen der Carmina Burana aus dem 13. Jahrhundert zurück. In einem der dort überlieferten Dramen wird die tragische Verflechtung der drei Könige zwischen Herodes und der Heiligen Familie dramatisiert und konfligiert.
(Nr. 227 der Edition Diemer).
Eine mögliche Freiheit in der Gestaltung der Kreuzigungs-Szene erlaubt uns eine andere Quelle. Friedrich von Spee, der große Gegner der Hexenprozesse, der musikalische Lyriker des Barock, bringt in seiner Sammlung „Trutz-Nachtigal“ ein Gedicht mit dem Titel „Ein trauriges Gespräch so Christus am Kreuz führt“. Es handelt sich um eine ergreifende, eigenständige und zugleich kritische Variante der Kreuzigungs-Gespräche. Darin führt Jesus Dialoge am Kreuz, mit dem Zimmermann, dann mit der Obrigkeit, die wie bei uns einfach nur Obrigkeit heißt. Auch von diesem Text haben wir uns anregen lassen. Nicht alle Quellen sind hiermit genannt, aber das Stück besteht ja auch bei weitem nicht nur aus Quellen.
Ein Novum liegt in der handlungslogischen Verbindung des Goldes mit dem Kindermord (siehe Inhaltsangabe). Das Gold treibt die Handlung an wie ein Motor, es ist für uns ein Symbol dafür, dass die Tragik, das Böse, die Negativität des Geschichtlichen nicht Religiosität verschuldet, sondern unter Ausnutzung religiöser Bedürfnisse die dahinter steckenden materiellen Interessen der Obrigkeit.
Der epische Bericht über die dreißig Jahre der Abwesenheit des Wolodja, während der er zur See gefahren ist und sich hochgearbeitet hat, enthält einige historisch verifizierbare Details. Das Mittelmeer war immer ein Meer der Gewalt, der Kriege und Katastrophen. Die Seekriege der Griechen, der Römer, der Christen und Mohammedaner haben sein Wasser mit Blut gefärbt, noch heute erleiden und scheitern die flüchtenden Menschen an der Grenzfunktion dieses Meeres. Der antike Schiffbau, die Städte, die Truppentransporte waren Ursache eines Holz-Bedarfs, in dessen Folge ganze Inseln und Landstriche kahlgeschlagen, unwiederbringlich gerodet wurden, es war die vielleicht erste menschenverschuldete ökologische Katastrophe überhaupt. Holz wurde eine teure Ware, die aus anderen Gegenden herangeholt werden musste.
Einige Motive in diesem Libretto vom Vierten König mögen zunächst eigenwillig anmuten, wenn nicht im christlichen Sinn gewagt, und im konfessionslosen Sinn wenig mystisch. Das Gegenteil ist der Fall.
Der Erzählung in der Bibel läuft unsere Handlung an keiner Stelle zuwider. Die Handlung spielt auf der Bühne gleichsam neben dem biblischen Geschehen parallel, beide Sphären begegnen sich an einigen markanten Stellen: In den Motiven des Sternes, der Begegnung mit den „Magoi“, dem Kindermord und dem Ende Christi berühren sich die Erzählstränge. Dem Tragischen, das in der Kreuzigung zu liegen scheint, folgt die Anlage unseres Stückes als Tragödie. Aus dem Geist der Musik wird diese Gattung neu geboren, weil wir das Experiment wagen, unsere Auffassung von – griechischer – Tragödienform mit dem biblisch-antiken Inhalt zu verbinden. Das gilt auch für die Frage nach dem guten Ende des Geschehens. Die griechische Tragödie kennzeichnet, ein unlösbares, unentrinnbares Schicksal auf die Bühne zu stellen, angesichts dessen – Aristoteles zufolge – der Zuschauer Furcht und Mitleid (genauer: Jammer und Schauder) empfinden soll, um eine Katharsis, eine innere Reinigung zu erfahren. Im christlichen Kontext finden wir diese Wirkung des Tragischen im Begriff der Wiedergeburt, oder, wie Jacob Böhme sagen würde, in der Gelassenheit. Man muss also die Wiedergeburt Jesu Christi nicht auf die Bühne stellen, um sie im Zuschauer dennoch zu ermöglichen.
Der dritte Akt befasst sich formelhaft mit einer Religiosität, die wir als eine mystische vielleicht bezeichnen dürfen, indem sie nicht den Anmaßungen einer konfessionellen Ideologie entspricht, sondern befreiend auftritt. „Nicht mein Ruf als Wundermann wird als Glaube überleben, wer mich frei erkennen kann, wird selbstbewusst ein Beispiel geben“, singt Christus am Ende. Es könnte ein Anfang sein.
Erster Akt
Die Sternedeuterin am Hof des jungen Königs eines nördlichen Landes sieht – ebenso wie ihre Kollegen im Morgenland – den Kometen über Bethlehem, den sie inhaltsgleich wie jene deutet: Die Botschaft des Kometen kündigt die Geburt des neuen Erdenkönigs Christus an. Wolodja, so lautet der Name des vierten Königs, ist mit seiner Regierungsarbeit ohnehin überfordert, will aus der Enge seiner Verantwortung in die Welt und sieht in der Hilfe für den neuen großen König die Chance auf anerkannte Heldentaten. Er nimmt Gold mit auf den Weg, um es dem neuen König als Zeichen der Huldigung zu überreichen und zieht gen Süden. Er trifft die „heiligen“ drei Könige im Wüstensand. Er will als vierter König sich ihnen anschließen, aber diesen Wunsch versagen ihm die anderen drei, weil sie, laut Bibel, im Auftrag des Tyrannen Herodes reisen, um Aufschluss über den Aufenthalt von Jesus Christus zu erfahren.
Wolodjas Pferd, das Wanka heißt, stirbt aufgrund der Strapazen seiner Reise. Er muss zu Fuß weiterwandern. Wolodja trifft auf einen verzweifelten Kaufmann. Der berichtet, dass er ausgeraubt worden sei, sein Gold ist weg. Dadurch kann er seine Schulden nicht begleichen. Es wird darauf angespielt, dass es eben das Gold ist, das Caspar, Melchior und Balthasar dem Jesus Christus neben Myrrhe und Weihrauch in diesem Augenblick schenken. Der Kaufmann verzweifelt über den Verlust des Goldes und tötet sich selbst – warum, wird dem Wolodja erst später klar. Wolodja nimmt das Pferd des toten Kaufmanns, um weiter reisen zu können. In einer Stadt am Meer trifft er die Frau des Kaufmanns, sie verdingt sich zum Schulden-Bezahlen. Ihr eben geborener Sohn droht als Pfand zu dienen.
Die Obrigkeit verdächtigt Wolodja, den Kaufmann ermordet zu haben, weil er das Pferd des Kaufmanns reitet. Wolodja hilft dafür der Familie, indem er von seinem, aus der Heimat mitgebrachten Gold deren Schulden bezahlt. Dadurch wird er verschont. Er wandert weiter, aber inzwischen ist der Komet erloschen, weil Christus nun geboren und auf der Flucht nach Ägypten ist. Zuvor sind Caspar, Melchior und Balthasar bei Jesus Christus gewesen und haben ihren biblischen Sinneswandel erlebt. Das Gold, so kann vermutet werden, das die Schergen der drei Könige dem Kaufmann geraubt haben, schenken sie nun dem neuen König im Stall.
Zweiter Akt
Wolodja trifft Caspar, Melchior und Balthasar ein zweites Mal, die sich auf dem Rückweg in ihre Heimatländer befinden. Sie sind nicht zu Herodes zurückgekehrt, weil Gottes Stimme ihnen dies untersagt hat. Dadurch wird Herodes, wie die Bibel sagt, wütend und beschließt den Kindermord zu Bethlehem.
Eine Blinde tritt auf und berichtet: Herodes beauftragte sie, die Blinde, mit der Legitimierung und Durchführung des Kindermordes. Kein normaler Mensch tötet so einfach alle neugeborenen Kinder einer Stadt. Sie liefert die ideologische Rechtfertigung des Kindermordes, indem sie erklärt, dass Satan der Vater dieser Kinder sei. Die Blinde ist zudem korrupt und lässt gegen Gold Kinder freikaufen. Hier ahnt man eine Verquickung der Motive Gold und Kindermord. Zu diesen Freigekauften gehört auch der Sohn des Kaufmanns – darauf wird jedoch erst im 3. Akt angespielt – und: Jesus Christus. Durch ihren Sinneswandel an der Krippe bekommt das Geschenk des Goldes also erst einen nachvollziehbaren Sinn: Es ermöglicht der heiligen Familie die Flucht durch Freikauf.
Die Seelen der toten Kinder verwandeln sich in Bienen und zerstechen der Aufhetzerin und Ideologin ihr Gesicht, weshalb sie erblindet. Die Blinde bereut daraufhin, indem sie von dem Massaker berichtet. Ihr Bericht ist eine Beichte. Die Mütter der toten Kinder klagen. Die Obrigkeit jedoch leugnet die Kindermorde, spielt sie herunter und verbietet die Aussagen darüber.
Die Obrigkeit unterstellt Wolodja, den Kaufmann getötet und sein Pferd genommen zu haben. Wolodja flieht und rettet sich auf eine Galeere und verdingt sich als Ruderer. Die nihilistische Blinde singt das Lied vom Nichts, als ihr Abschiedslied, ein emotionaler Höhepunkt des ganzen Stückes.
Zwischenspiel
Dreißig Jahre ist Wolodja fort. In einem relativ kurzen Prosabericht werden diese Jahre nur berichtet, vergleichbar mit der Teichoskopie („Mauerschau“ oder Botenbericht) des griechischen Dramas. Wolodja kehrt als reicher Mann und als Schiffseigner zurück. Er hat sich vom Sklaven zum Piraten, dann zum Handelsherrn mit eigenem Schiff hochgearbeitet.
Dritter Akt
Dreißig Jahre später: Wolodja liefert Holz nach Jerusalem. Sein Auftraggeber ist ein Zimmermann. Es ist der Sohn des dreißig Jahre zuvor ausgeraubten Kaufmanns. Er baut Hinrichtungskreuze und schlägt Delinquenten die Nägel ein. Dadurch nimmt er die Funktion eines Henkers an.
Dieser Sohn des Kaufmanns erfährt, wer Wolodja ist. Wolodja steht für ihn noch immer als Mörder seines Vaters vor Augen. Sophia aber glaubt an Wolodjas Unschuld und spielt darauf an, dass ihr Sohn, der genau 30 Jahre alt ist, damals freigekauft wurde, und auch dafür war das Gold des Kaufmanns vorgesehen, das ihm gestohlen wurde, und das Wolodja der Sophia aus seiner Tasche ersetzte. Der Sohn glaubt immer noch, dass dieses Gold dasjenige war, das der Kaufmann mit sich führte. Deshalb wird Wolodja bei der Obrigkeit angezeigt.
Die Obrigkeit inhaftiert ihn. Im Kerker erfährt er von Jesus Christus, der hingerichtet werden soll. Der Sohn des Kaufmanns wird ihn ans Kreuz nageln. Er gehört zur Obrigkeit, er, der Freigekaufte.
Der Schlussgesang von Wolodja fasst seine Botschaft zusammen. Er sieht um das Haupt des Jesus Christus Bienen fliegen als Zeichen, dass sich an ihm nun doch der letzte Kindermord erfüllt, aber auch als Zeichen der Verbundenheit mit den Opfern der Terrorherrschaft. Wolodja wirft dem Henker symbolisch seine Perlen vor die Füße. Der Henker (Sohn des Kaufmanns) lässt ihn verächtlich frei. Sophia, die Witwe des toten Kaufmanns, sieht, wie ihr Sohn den Jesus Christus ans Kreuz nagelt. Ihr Monolog beschließt das Thema der leidenden Mütter.